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Zeit zum Lesen? Mein Märchen vom munteren Bächlein, das ein stiller Bach werden wollte
Es war einmal ein kleines, munteres Bächlein. Eben erst der Quelle entsprungen, schaute es sich schon neugierig in der fremden, großen Welt um. Das Bächlein musste jedoch schnell schauen, denn es konnte nicht an einer Stelle verweilen. Sonst wäre es ja kein munteres Bächlein gewesen.
Was gab es da nicht alles zu sehen! Blumen am Rand des Ufers, Käfer auf einem Stein, die Sonne am Himmel, Kinder, die mit nackten Füßen im Wasser badeten! Kleine und große Forellen, die mit ihm, dem Bächlein, spielen wollten! Das Bächlein konnte sich nicht satt sehen. Jeden Tag entdeckte es etwas Neues, noch nie vorher Gesehenes. Wie schön schien dem Bächlein doch die Welt, und wie unendlich weit!
Sogar im Winter, wenn die Sonne den Schnee funkeln ließ, und das Wasser vor Kälte bald erstarrte, hatte es seine Freude daran. Keine Zeit jedoch, an einer Stelle zu verweilen. Das Bächlein musste weiter, immer weiter...
Es hüpfte über glattgeschliffene Steine. Es schlängelte sich an engen Uferwindungen vorbei. Es brach sich an großen zerklüfteten Felsbrocken, die in den Bach gefallen waren. Kraft war dazu nötig und List, aber auch Geduld. Viel Geduld sogar, doch schließlich fand das Bächlein jedes Mal seinen Weg. ?Weich besiegt hart? hätten wohl die Weisen aus dem alten China dazu gesagt.
So vergingen einige Jahre. Das Bächlein wurde zum Bach und damit etwas breiter und behäbiger. Von seiner Lebendigkeit hatte er trotzdem wenig eingebüßt. Nach wie vor schlängelte er sich murmelnd und plätschernd durch die Landschaft. Er war?s so zufrieden.
Eines Tages geschah aber etwas, das sein Leben vollkommen verändern sollte. Oft schon hatten kleine Tiere versucht, den Bach zu überqueren. Sie hüpften zu diesem Zweck auf die aus dem Wasser herausragenden Steine und sprangen dann ans andere Ufer. Doch nicht so an diesem Morgen. Es hatte geschneit, und die Steine waren schlüpfrig und glatt. Ein kleines Feldmäuschen näherte sich dem Ufer. Auf der anderen Seite wartete schon die Mäusemutter und versuchte, ihr Kind herüber zu locken. Nach einigem Zögern hüpfte das Mäuschen schließlich auf den Stein in der Mitte des Baches, rutschte aber aus und fiel ins Wasser. Wie erschrak da der Bach! Inbrünstig wünschte er, sein Tempo bremsen zu können. Dann wäre das Mäuschen vielleicht noch zu retten gewesen. Vergebens stemmte er sich gegen die Strömung, also gegen sich selbst. Eigentlich wusste er ja, dass seine Versuche ohne Erfolg verlaufen mussten. Aber er wollte einfach nicht wahrhaben, was da eben geschehen war.
Von diesem Tag an konnte sich der Bach nicht mehr über die kleinen Dinge des Lebens freuen wie bisher. Er dachte nur noch das Eine: Ich bin schuld am Tod des Mäuschens! Ich allein.
Viel Zeit ging so ins Land. Der Bach war mit jedem neuanbrechenden Jahr immer stiller geworden. Es beherrschte ihn nur noch ein einziger Wunsch.
Und irgendwann konnte der Bach es nicht mehr aushalten. Er musste diesen Wunsch jemandem mitteilen.
Eines Morgens, als der Uferläufer, sein Freund, wie üblich sein Bad nahm und dabei übermütig mit dem klaren Wasser um sich spritzte, fasste sich der Bach ein Herz. Er erzählte ihm von seinen Nöten. Ich möchte auch wieder so unbeschwert sein können wie du. Ich bin es müde, immer in Eile sein zu müssen. Ich will ein stiller Bach sein und in einer kleinen Bucht sanft dahinfließen. Dann kann ich alles genießen, was ich sehe. Dann muss ich nicht mehr die scharfen Kanten der Felsen umrunden. Dann kann ich mich mit allen Tieren, die in mir baden, in Ruhe unterhalten. Und vor allem können sie sich retten, wenn sie in mich hineinfallen. Ach, wäre das schön.
Der Uferläufer hörte interessiert zu. Nun ja, es gäbe da vielleicht eine Möglichkeit, dir zu helfen. Aber hast du dir das alles gut überlegt? Ich glaube nicht, dass du auf die Dauer glücklich sein wirst!
Der Bach überhörte geflissentlich die Einwände des Vogels. Zu sehr war er von der Mitteilung, dass es eine Möglichkeit geben könnte, begeistert. Schnell, sag es mir, was kann ich tun? Schon morgen will ich ein stilles Wasser sein. Alle Tiere werden sich freuen, alle Pflanzen, und ich werde endlich wieder meinen Frieden finden. Ach, ich bin ganz berauscht! Wie gut wird es mir gehen, wie ruhig und interessant wird mein Leben sein!
Der Uferläufer zögerte, bevor er antwortete. Doch dann sagte er: Du musst noch ein wenig Geduld haben. Ich werde den Sturm um Rat fragen. Er kann dir vielleicht helfen. Leb wohl, lieber Bach!
Mit diesen Worten flog der Uferläufer davon, hoch oben in die Wolken hinein. Bald war er nur noch als schwarzer Punkt und bald gar nicht mehr zu sehen. Der Bach wurde noch trauriger. Ob er wohl seinen Freund wiedersehen würde? Drei Tage wartete der Bach vergebens. Am vierten Tag, als er vom vielen Warten schon ganz ungeduldig geworden war, bemerkte er plötzlich am Himmel einen Vogel, der sich näherte. Ob er es war, sein lustiger Uferläufer? Und ob er den Sturm angetroffen hatte?
Ja, er war es tatsächlich! Und den Sturm hatte er auch um Rat gefragt. Der Bach erwachte aus seiner Lethargie, als der Uferläufer ihm Bericht erstattete.
Der Sturm würde in der nächsten Nacht kommen und eine Weide entwurzeln, die am Ufer stand. Dadurch würde der Bach nicht mehr so ungehindert fließen können. Er würde sich stauen und eine Bucht bilden.
Der Uferläufer erzählte: Deine Geschichte hat den Sturm sehr berührt. Deshalb will er dir auch helfen. Aber so wie sie glaubt auch er nicht, dass du dadurch auf Dauer glücklicher werden wirst.
Lass das nur meine Sorge sein, lieber Freund. Ich danke dir sehr für deine Mühe. Komm mich nur oft besuchen in meiner kleinen Bucht. Und putze dich ausgiebig wie bisher in meinem klaren Wasser.
Es dämmerte, und der Abend kam. Die Tiere spürten wohl schon das nahende Unwetter. Eine seltsame, unnatürliche Stille breitete sich aus. Dann erhob sich ein gewaltiger Sturm. Alle Bäume erzitterten. Die alte Weide, deren Wurzeln bis in den Bach hineinragten, ächzte. Mit einem ersten kräftigen Windstoß hob der Sturm sie etwas aus dem Erdreich. Beim zweiten, der schon kräftiger ausfiel, fuhr er in die dichten Zweige des Baumes, entwurzelte ihn vollends und warf ihn quer in den Bach. Dieser erschrak. Sollte das die versprochene Hilfe sein? So gefährlich hatte er sich Naturgewalten nicht vorgestellt!
Am Morgen sah man dann das ganze Ausmaß des Schadens. Viele kleine Bäume hatte der Sturm ebenfalls entwurzelt, nicht nur die alte Weide. Einige Forellen waren ans Ufer gespült worden und zappelten nur noch. Was aber war aus dem munteren Bach geworden? War er nun glücklich? Man konnte ihn auf den ersten Blick gar nicht wieder erkennen. Diese trübe, kleine Bucht, sollte er das gewesen sein?
Der Bach indessen schaute erschrocken um sich. Es war so still um ihn herum. Kein einziges Lebewesen zu sehen.
Wir müssen ihn wohl oder übel erst einmal seinem Schicksal überlassen.
Der Sturm hatte seine Schuldigkeit getan. Er war wieder verschwunden. Und der Uferläufer? Frierend saß er auf einem Ast der entwurzelten Weide, die bisher sein Lieblingsbaum gewesen war.
Als die wärmende Sonne am Himmel erschien, wurde erst einmal ausgiebig das nasse Gefieder geputzt. Nun sah die Welt schon ein wenig friedlicher aus. Doch irgend etwas beunruhigte den Uferläufer immer noch. Was war es nur? Plötzlich wusste er es. Wo war der muntere Bach geblieben? Der hilfreiche Vogel erblickte nur eine stille, kleine Bucht mit trübem Wasser. Es gab keinen Bach mehr. Wo sollte er nun baden? In diesem seichten Wasser? Nein! Er flog davon, um sich einen anderen Badeplatz zu suchen.
Der Bach, der kein Bach mehr war, versuchte inzwischen, sich an sein neues, selbstgewähltes Leben zu gewöhnen. Das war schwer.
Er hielt täglich aufs Neue vergebens Ausschau nach seinem lustigen Uferläufer. Doch er kam nicht. Aber auch die springlebendigen Forellen blieben fern. Dafür nistete sich eine träge, fette, unfreundliche Kröte am Ufer ein. Mit ihr konnte man nicht reden, geschweige denn Scherz treiben.
Ewig mit sich und der Welt unzufrieden, blieb die Kröte die meiste Zeit unbeweglich an einer Stelle sitzen. Genauso unbeweglich wurde notgedrungen auch der Bach, der kein Bach mehr war. Aber darüber konnte er sich nicht einmal beklagen. Er hatte es so gewollt! Ja, natürlich, dieses Leben, so ruhig und gleichförmig, so bar jeder Aufregung, das hatte er sich doch gewünscht! Nun müsste er doch glücklich und zufrieden sein!
Keine Höhen, keine Tiefen, nur Stille. Und Einsamkeit. Einsamkeit? Nein, das nicht! Die Fische und Vögel, sie sollten kommen und sich hier im Wasser wohl fühlen, wie es früher gewesen war! Wo blieben sie nur?
Vielleicht musste der Nicht- mehr- Bach nur laut genug rufen? Sofort schöpfte er wieder neuen Mut. Er versuchte, zu sprudeln und zu schäumen, damit es die Tiere hörten. Aber kein Stein war in der Nähe, an dem sich das Wasser reiben konnte, um ein Rauschen zu erzeugen.
Zu allem Übel rührte sich nun auch noch die Kröte. Hämisch und scheppernd lachte sie vor sich hin. Streng dich nur an, es wird dir nichts helfen. Du wirst sowieso nichts bewegen können. Du wolltest doch eine stille Bucht sein? Nun hast du sie. Also gib dich zufrieden.
Füge dich in dein selbstgewähltes Los! Und höre auf, mich in meiner Ruhe zu stören. Jammere nicht herum ! Mit diesen unfreundlichen Worten zog sich die Kröte in ihre Höhle zurück.
Der Bach, der kein Bach mehr war, wurde immer trübsinniger und lebloser, immer müder und einsamer. Nicht einmal die genügsamen Wasserpflanzen fühlten sich an diesem Ort wohl. Auch sie wurden krank.
Manchmal verirrte sich zwar eine muntere Libelle hierher, aber schnell flog sie wieder davon. Libellen lieben das Licht. Und die Sonne konnte das immer dichter werdende Gestrüpp kaum mehr durchdringen. Da blieb sie lieber gleich fern.
Durch das sich nie bewegende Wasser und die faulenden Wasserpflanzen war die Bucht auf dem besten Weg, ein Sumpf zu werden.
Kein Lüftchen wehte. Ganz fern hörte man ab und zu einen Frosch quaken. Es kam einem so vor, als wäre man hier in einer anderen Welt, einer krankmachenden.
Nach und nach verlor der Bach, der keiner mehr war, in dieser Umgebung auch noch eine Erinnerung nach der anderen an das Leben von früher, als er noch ein munteres Bächlein gewesen war. Nur eine einzige wollte nicht verschwinden, und eben diese hätte er gern aus seinem Gedächtnis verbannt. Es war die Erinnerung an das ertrunkene Mäuschen. Er grübelte und grübelte Tag und Nacht über Schuld oder Unschuld nach.
War sein Leben nun das Leben, das er immer wollte? Immer mehr kam er zu der Überzeugung, dass er selbstsüchtig gehandelt hatte. Damals, als der Sturm kam, ja, plötzlich erinnerte er sich wieder daran, waren viele kleine Bäume entwurzelt worden. Die schöne Weide musste sterben, und nur deshalb, weil er, der Nicht- mehr- Bach, sich ein anderes Leben gewünscht hatte. Weil er vergessen wollte, was damals geschah. Ein Mäuschen war ertrunken. Das konnte er nicht verhindern. Und wie verhielt es sich mit den Fischen, die durch den Sturm ans Land gespült worden waren? Neue Schuldgefühle kamen auf.
Es konnte nicht mehr so weitergehen. Nur, was sollte er tun? Mit wem sollte er sich beraten, wem sein Leid klagen? Der alten Kröte? Nein, die würde ihn nur ausspotten.
Der Frühling kehrte ins Land zurück und mit ihm alle Zugvögel, auch die, welche an den Bächen wohnten. Die Luft atmete Frische aus und weckte die verloren gegangene Erinnerung an seinen Freund. Inständig wünschte sich der leblose Bach nun täglich, dass sich sein lieber Uferläufer hierher verirren würde.
Und eines Tages geschah das Wunder. Oder war es gar keines ? Der Vogel kam tatsächlich, ließ sich auf einem Baumstumpf nieder, wollte jedoch gleich wieder wegfliegen. Das Wasser sah so trübe aus. Und da schaute auch noch eine fette, mürrisch dreinblickende Kröte aus ihrer Höhle heraus. Richtig unheimlich war es hier!
Plötzlich hörte der Uferläufer eine bekannte Stimme. War das nicht der verschwundene Bach, der zu ihm sprach? Er hatte seine Flügel schon in die Luft erhoben, ließ sich aber nun wieder am Ufer der Bucht nieder.
Eine klagende Stimme tönte ihm aus dem trüben Wasser entgegen. Lieber Uferläufer, fliege nicht gleich weg. Ich habe so auf dich gewartet.? Der Vogel stutzte. Ja, das war er, sein verloren gegangener Bach, zumindest dessen Stimme! Der Bach aber fuhr fort, sein Leid zu klagen. Der Uferläufer hörte geduldig zu, sprach aber dann: Bist du es wirklich? Noch einmal kann ich dir nicht helfen. Du musst aus eigener Kraft eine Lösung finden. Leb wohl, ich komme morgen wieder.
Nun war der Bach, der keiner mehr war, erneut allein. Allein mit seinen Gedanken. Es wollte ihm einfach keine Lösung einfallen.
Ganz abwesend sah er der Kröte zu, die sich aus ihrer Höhle heraus buddelte. Warum musste er nur immer wieder hinschauen?
Plötzlich fiel ihm ein Spruch aus seiner Bächleinzeit ein: Weich besiegt Hart!
Das war sie, die Lösung! Und ausgerechnet die träge Kröte hatte ihn darauf gebracht! Sofort begann der erwachte Bach mit viel Mühe, das Ufer zu unterhöhlen. Aber ein Großteil seiner starken Kräfte hatte er im seichten Wasser der Bucht verloren. Er wollte schon aufgeben. Doch mit zunehmender Tätigkeit bemerkte der Bach auch eine Zunahme seiner Stärke. Die Kröte höhnte und schimpfte. Veränderungen mochte sie nicht. Alles sollte beim alten bleiben. Der Bach aber ließ sich nicht beirren. Er hörte nicht auf ihr Gezeter. Schließlich gab sie es auf und suchte sich eine neue Behausung.
Als am nächsten Tag der Uferläufer wiederkam, hatte der Bach schon eine große Höhlung gegraben. Der Vogel flog zufrieden davon, wohlwissend, dass seine Hilfe nicht vonnöten war. Geduldig wühlte sich das Wasser weiter voran. Eine Menge Schlamm wurde dabei aufgewirbelt! Lange sollte es aber noch dauern, bis der Bach wieder frei fließen konnte.
Woher nahm er nur auf einmal seine Kraft und Stärke ? Er hatte ein Ziel. Er wollte wieder ein munteres Bächlein sein, das voller Leben durch die Landschaft plätschern konnte. Er wollte alle Vorkommnisse so nehmen, wie sie eben geschehen mussten. Zum Leben gehörte nun einmal auch der Tod. Man konnte ihn nicht verschweigen oder ewig verdrängen.
Bald wäre er, der Bach, auch selbst noch gestorben. Gerade im letzten Moment kam ihm noch die richtige Erkenntnis.. Wie froh er darüber war!
Ohne Pause arbeitete das Wasser an seiner Befreiung, obwohl nicht gewiss war, wie diese aussehen würde.
Was der Bach aber nicht wusste: Gleich nebenan floss ein klares, eben dem Fels entsprungenes Bächlein ängstlich und noch etwas kümmerlich dahin. Es suchte Gesellschaft. Und es half unbewusst mit, den Bald- wieder- Bach zu befreien.
Weil es sich ausgerechnet da seinen Weg bahnte, wo das Ufer durch das hartnäckige Arbeiten schon gelockert war.
Und dann war es soweit: Es gab keine Barriere mehr; der letzte schlammige Erdrest stürzte ins Wasser. Plötzlich waren beide, das junge Bächlein und der wiedergeborene Bach, vereint. Sie bildeten zusammen einen klaren, sprudelnden Gebirgsbach, der sich seinen Weg zum Meer bahnte. Es war eine Freude, diesem zuzusehen oder ihm zu lauschen. Der wiedergeborene Bach murmelte so lebendig und zufrieden vor sich hin, als würde er dem jungen Bächlein seine Geschichte erzählen wollen. Er mag es sogar getan haben. Jedoch seine Lektionen muss auch das junge Bächlein im Leben allein absolvieren. Und wenn sie ihm noch so schwer erscheinen.
Wir aber sind froh über das gute Ende, das es nicht bei allen Geschichten gibt. Vielleicht aber hat der eine oder andere selbst wohl schon ähnliches erlebt, wie: Die Geschichte vom munteren Bächlein, das ein stiller Bach werden wollte.
cop.by resehda /Regina Sehnert
Veröffentlicht in meinem Buch "Augen-Blicke- gereimtes-ungereimtes Herbstleben" unter Anabella Freimann
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