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2. "Weiß eigentlich irgend jemand,
was mich krank machte?
Was mich Jahre lang in der Nähe
des Todes und im Verlangen nach dem
Tode festhielt?
Es scheint mir nicht so."
Friedrich Nietzsche
Als ich heute morgen aufwachte, waren meine augen nur schwer zu öffnen. Mein Kopf fühlte sich so an, als wäre er unter tausend Steinen erschlagen worden. Ein strenger Geruch stach mir in die Nase. Bald konnte ich ihn definieren: Kotze lag vor mir auf dem Boden. Auch mein schwarzer Pulli war am Ärmel mit dem Bullshit voll. Als nächstes erspähten meine augen Nils. Er lag schlafend auf der braunen Couch, in meiner unmittelbaren Nähe. Speichel floß aus seinem Mund. Die dunkelbraunen, verfilzten Haare hingen in sein knochiges Gesicht. Sein dünner Körper zitterte. Auf dem boden befand sich eine relativ saubere Decke, die ich über ihn legte. Hier wohne ich also, in einem alten versifften Haus. Es gehörte Nils Eltern. Sie ließen uns dort wohnen, weil sie ihren Sohn nicht mehr ertragen konnten. Vor drei Jahren, Nils war damals gerade achtzehn geworden, da flog er von der Schule und von zu hause raus. Er lebte auf der Straße. Verwahrlost, von Freunden seiner Eltern erkannt, empfanden sie diese Tatsache als Schande, so entschieden sie sich dazu ihm das Haus seines Großvaters zu überlassen, der vor jahren starb. Eigentlich sollte die Bruchbude saniert werden danach vermietet, aber nichts davon geschah. Für Nils war dies eine Abfindung, so wie das monatliche Geld, was von ihnen überwiesen wurde. Dies beinhaltete, daß er sich nicht mehr bei ihnen blicken ließ. Weder an weihnachten, noch an seinem Geburtstag, denn ein Drogenabhängiger konnte unmöglich ihr Sohn sein. Nils hatte kein schlechtes Gewissen wegen dieser Sache, weil sein Vater reich war. Anwalt, Teilhaber einer großen Kanzlei, um genauer zu werden. Auch ihre Liebe oder Zuwendung vermisste er nicht, da sie ihm weder das eine noch das andere jemals spüren ließen. Seine Mutter weinte, als er ausbrach aus einem dasein des Scheins, Tränen der Verlogenheit. Allerdings verflog ihre Sorge schnell. In dem Augenblick, als sie erkannte, daß man mit einem versteinerten Herz nicht leiden kann. So tauchte sie ein in eine Illusion, in der sie ihre Unfähigkeit zur mütterlichen Fürsorge schuldlos rechtfertigen konnte. Ertränkt in einem Strudel der Verlogenheit, der sie dazu bemächtigte in ihrem Sohn einen anderen Menschen zu sehen. Dies war aber nur möglich, indem sie die Person zu der er geworden war verdrängte, verleugnete und letztendlich aus Selbstschutz aus ihrem Leben verbannte. So konnte sie sich wenigstens bruchstückhaft an jemanden erinnern, der in Wirklichkeit niemals existiert hatte.-Außer in ihrer vollkommenen Phantasie. Einmal begegneten wir ihr in der Stadt. Sie lief zügig, wortlos an uns vorbei. Ihre blonden Haare waren hochgesteckt, der gang begleitet von Arroganz. Sie schaute sich nicht nach uns um, sondern richtete ihren starren Blick nach vorne. Das war alles, was ich von Nils Eltern wußte und dies war mit Sicherheit mehr, als das, was sie von sich selbst erkannt hatten. Auf dem tisch befand sich ein Stückchen Shit. Da waren sie wieder, die gedanken eines zweifelnden, der sich am Ende des Weges vor einer Mauer befindet. Ich bröselte das Shit, toastete eine Kippe und vermischte alles sorgfältig. In der Bong war kein Wasser mehr. Dies kann dadurch erklärt werden, daß irgend jemand sie stoned oder besoffen umgekippt hatte. Der teppich sog das Wasser wie Nahrung auf. daher auch der Geruch nach Verwesung, der besonders in diesem Zimmer dominierte. So ging ich durch den langen Flur ins Bad. Dort fand ich Luis. Sein kleiner Körper kauerte auf den Fließen vor dem Klo. Ich schluckte, während sich mein Gesicht zusammen zog. Er war ein Abbild von Unschuld. Zwölf oder dreizehn Jahre alt. Die blonden schulterlangen Haare verhüllten schützend seine kindlichen Züge. Niemand hatte eine Ahnung, woher er kam oder wohin er ging, denn es kümmerte keinen. Nicht wirklich vielleicht auch nicht genug, ansonsten hätter er hier nicht gelegen. Mir wurde übel. Wer war verantwortlich für die verlorene Gerechtigkeit? Sollte ich seine Familie hassen, die Welt oder mich selbst? Gebunden meine Hände, Schwäche zerstört Hoffnung. man schadet sich nur selbst, wenn man versucht seine blutigen Hände aus der Schlinge zu ziehen. "Luis", flüsterte ich über ihn gebeugt. "Luis, leg dich doch rüber. Du holst dir den Tod bei dieser Kälte." Vorwurfsvoll strarrten mich zwei schwarze Steine an, die sich fragten, was schlimmer war, die Tatsache des beraubten schlafes oder eine Lungenentzündung. "Was fürn Tag issn heute?", fragte er lustlos. "Keine Ahnung! Was fürn Tag war denn gestern?", meine Antwort. Er lehnte sich an die kaputte Heizung. Ich füllte Wasser in die Bong. "Geht noch was zu rauchen?", er richtete sich auf. Ich senkte den Kopf, hasste das Jetzt. Ihr stolzen Richter auf euren Thronen, beachtet eure Diener kaum. Doch sind wir nicht eure Diener. Sklaven, ohne Zweifel. Aber euch nicht unterworfen, sondern verskavt von uns selbst. Hätte ich eine Alternative gekannt, dann wäre mein Handeln auf etwas anderes gerichtet gewesen. Wenn eine Entscheidung nur auf der Theorie basiert kann jeder ganz einfach die richtige Wahl treffen. Theortisch sind wir alle Perfekt, nur praktisch weit davon entfernt. Ich nickte und wir gingen ins Wohnzimmer. Nils pennte immer noch. Wie die Tapeten an der Wand lösten sich meine Träume. Träume von einer anderen Welt. ich glaubte daran, daß Menschen durch Ideale die Geschichte verändern könnten. Vielleicht stimmt diese These auch, allerdings gehörte ich nicht zu den verhöhnten, gepriesenen revolutionären Helden, die für ihre Überzeugungen ihr Leben opferten. In die Schule ging ich schon lange nicht mehr. Ich fand heraus: Was du erreichen kannst ist nicht wichtig; was du erreichen willst wird dir sowieso verwehrt. Wieso sollte ich mich von Lehrern quälen lassen? Nein. Diese verfickten Sophisten sollten andere maltretieren. Diejenigen, denen Mater nicht auffiehl. Ich lebte lieber einer Made gleich, wie ein schleimiger, nichtsnutziger Parasit. Alles, was mich von einem Tier unterschied war die Erinnerung. Die Erinnerung, die mich innerlich wie einen Leprakrenken schweigsam zerfraß. Ich nahm die Bong, füllte das Köpfchen, hielt das Kickloch zu, nahm einen leichten Zug und bließ den Rauch aus der Bong. nun zog ich kräftiger, elende Gedanken erfüllten mein gestörtes Hirn. Verheisungsvoll quoll der weiß-gelbe rauch auf. Mein Finger löste sich vom Kicklock, ich atmete tief ein. Schwindel überkam mich, fesseln lösten sich. Luis rauchte die Bong, legte sich auf den Boden und lächelte. Sein Lächeln umschlang meine gedanken. Weit weg alles heilige. Verworren alles klare. Hinterlistig, die Illusion der Zufriedenheit. Ich war Teil der Vergangenheit.
Cornelia Becker
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