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Treibgut des Lebens
Auch wenn es mir noch nicht bewusst war, so muss ich es doch schon gespürt haben. Früh am Morgen stand ich auf um mit meinem Begleiter einen Spaziergang am Strand zu machen. Alles Leben schien noch zu schlafen, nur wir zwei machten uns auf den Weg. Dick eingemummelt in warme Kleider, voller Freude auf die gemeinsame Zeit. Nun standen wir da, den Wellen des Meeres gegenüber, den kalten Wind im Gesicht. Die Luft von einer Frische, wie ich sie schon lange nicht mehr gerochen habe. Mein Blick strich über die Wellen, den Strand und die Dünen hinauf zum Himmel. Manch einer würde sagen, das ist halt so, für mich jedoch begann in diesem Augenblick ein Zauber und eine Magie, die es nur selten in diesem Leben zu erfahren gilt. Die frisch erwachte Sonne, ihre Kraft in diesem Moment nur zu erahnen, traf sich am Himmel mit ihrem Gefährten dem Mond. Beide standen einander gegenüber. Der Himmel um die Sonne herum in einem zarten orange-rosa mit einem weichen himmlischen blau-weiß getaucht, der Mondhimmel in einem atemberaubendem taubenblau gerahmt. Und dort, an der Stelle an der sich diese geteilten Himmel zu treffen schienen wurden sie eins, in den wundervollsten Farben, die man sich vorstellen kann. Tief im Bann dieses Naturschauspiels setzte ich einen Fuß vor den anderen. Der Sand war mit einer leichten, geradezu zarten Schneeschicht bedeckt. Meine Schritte waren leicht und fanden mit jedem Tritt festen Grund. Der Sand unter dem Schnee war gefroren und zu einer stabilen Lauffläche geworden. Kein Torkeln oder wegsinken, stabile, feste Schritte die mich weit den Strand entlang trugen.Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt. Der unebenen Sand, die von der Flut verschobenen Sandbänke, Abflussrinnen und Steine, bedeckt mit dem zarten Schnee, alles weiß wohin das Auge blickte. Mir schoss durch den Kopf: So muss es auf dem Mond sein eine pulvrige Oberfläche und darunter fester Boden. Mit jedem weiteren Schritt tauchte ich tiefer und tiefer in diese Welt, die so anders zu sein schien als die, in der ich heute Morgen aufgewacht war.Mir wurde kalt, der Wind hatte die Kälte in meine Kleider gedrückt und ich spürte wie sie zu brennen begann. Noch immer voller Freude und in diesem seltsamen magischen Gefühl trat ich mit meinem Begleiter den Rückweg an. Nur der Wind und das Donnern der Wellen war in der Stille dieses Augenblicks zu hören. Die Sonne begann nun an Kraft zu gewinnen. Doch es war nicht ihre Wärme, vielmehr die Kraft ihrer Strahlen. In ihrem Licht begann der Schnee zu funkeln. Tausende kleiner Diamanten schienen meinen Weg zu säumen. Der Schnee war anders, nicht nass oder pappig, er war leicht, schien nur aus Millionen kleiner Kristalle zu bestehen. Mein Versuch einen Schneeball zu formen, endete damit, dass mir die Kristalle aus den Händen rannen und wiederum wie Diamanten zu Boden rieselten. Ich war reich, umgeben von unzählbaren Mengen kleiner leuchtender Diamanten.Mit einem Lächeln tiefen Glücks ging ich weiter. Schon von weiter weg konnte ich dieses Ding erkennen. Irgendwie krüppelig, schief und nicht zu deuten. Meine Schritte wurden schneller, meine Neugierde unbändig. Was hatte ich da entdeckt und warum war es mir eben, auf meinem Hinweg noch nicht ins Auge gefallen? Fast zeitgleich erreichte ich zusammen mit meinem Begleiter dieses Ding. Wir umrundeten es voller Neugierde. Wir betrachteten jedes Detail. Es war Müll! Treibgut des Lebens, weggeworfen von Menschen. Und doch hatte sich jemand die Mühe gemacht all das zusammenzutragen und eine wunderschöne Skulptur daraus zu bauen, hier am Strand für jeden der vorbeikommt. Die Kälte, die so sehr an mir riss wurde unwichtig. Den Träger dieser wundersamen Ansammlung bildete ein entrindeter Stamm, tief in den Sand gebohrt, aufrecht und pur. Es muss viel Kraft und Zeit in Anspruch genommen haben, all diese Dinge über die langen Weiten des Strandes an diesen einen Platz zusammen getragen zu haben. Einige von ihnen waren neu, andere scheinbar nur kurz in Gebrauch, viele jedoch schon alt, voller Gebrauchsspuren und zerschlissen. Mehr und mehr vertiefte ich mich in dieser Treibgut-Skulptur, mit Stricken zusammengebunden und ineinaderverkeilter Gegenstände. All das waren Dinge des Lebens, Flip-Flops, eine Zahnbürste, ein Kamm, eine Mütze, ein alter PKW/Reifen, Handschuhe, Schuhe, Dosen, Plastikflaschen und vieles mehr. Jedes dieser Lebensdinge hatte eine Geschichte. Wo mochten sie schon gewesen sein, wer hatte sie absichtlich ins Meer geworfen oder aber verloren. Und jetzt, hier an diesem einsamen Strand, hoch oben im Norden wurdensie zu etwas Neuem, Schönen zusammen gesetzt. Diese Lebens-Skulptur schien zu leben, auf ihre ihr eigene Art. Mit jedem verändern meines Blickwinkels mit jedem neuen Lichtstrahl entdeckte ich etwas Neues und neue Fragen und Geschichten entstanden wie von selbst. „Treibgut des Lebens“ mit diesen Worten in meinem Kopf und in meinen Ohren ging ich zurück zu unserem Haus. Mein Begleiter immer an meiner Seite.Es verging einige Zeit und mein Begleiter hatte sich auf dem Sofa in eine warme weiche Decke gekuschelt und döste vor sich hin, während ich noch immer in mir versunken an einer Tasse Tee trank. Treibgut des Lebens es ging mir nicht aus dem Kopf. Ich stand auf und ging ins Bad. Lange schaute ich in den Spiegel, betrachtete mein Gesicht. Wie es sich verändert hatte im Laufe der Jahre. Ich begann mich auszuziehen und stelle mich vor den grossen Kleiderspiegel. Ja, auch mein Körper hatte sich verändert in den Jahren. Ich fühlte mich in diesem Moment wie diese Lebens-Skulptur da draußen am Strand. Nein eine Schönheit war und bin ich nicht. Das Treibgut meines Lebens hat mich geformt. Aus mir etwas Einzigartiges gemacht ich bin schön auf meine Art. Ich stand noch lange vor dem Spiegel und habe die Dinge, das Treibgut, das mich geformt hat versucht zu erkennen. Seine Formen, Farben und Materialien. Ich änderte meinen Blickwinkel ein ums andere Mal. Jedes Mal konnte ich etwas anderes erkennen: Freunde, Begegnungen, ein Lachen, ein Weinen, Freude und Leid. Viele Dinge offenbaren sich, wenn man nur hinschaut. Ist es nun Magie oder Spinnerei: für mich ist es mein Treibgut des Lebens - und ich liebe es.
… ich habe mir vorgenommen zurück zu gehen und auch ein wenig Treibgut in die Skulptur zu verbauen. Treibgut des Lebens, und ich bin ein Teil davon…
Herzlich, Ihre Daniela Schulz
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