Die Entscheidung: Der EuGH hat in der Rechtssache Kücük (Urteil vom 26.01.2012, gerichtl. Aktenz. C-586/10) eine Entscheidung verkündet. Dabei ging es um folgendes: - Frau Kücük war in der Zeit von Juli 1996 bis Dezember 2007 beim Land Nordrhein-Westfalen als Justizangestellte beschäftigt und beim Amtsgericht Köln im Geschäftsstellenbereich eingesetzt worden. Befristungsgrund war jeweils die Vertretung von verschiedenen abwesenden Justizangestellten (in erster Linie wegen deren Sonder- oder Erziehungsurlaubs). Die Arbeitnehmerin wehrte sich vor den deutschen Arbeitsgerichten gegen die Wirksamkeit der Befristung ihres Arbeitsverhältnisses. Das zuletzt mit der Sache befasste Bundesarbeitsgericht hatte die Sache dem EuGH vorgelegt (Vorlagebeschluss v. 17.11.2010 - 7 AZR 443/09). Es wollte unter anderem geklärt wissen, ob es mit europäischem Recht vereinbar ist, wenn eine Befristung aufgrund des Sachgrunds „Vertretung“ auch dann angenommen wird, wenn ein Arbeitgeber einen ständigen Vertretungsbedarf hat und diesen auch dadurch decken könnte, dass der betreffende Arbeitnehmer unbefristet eingestellt und ihm die jeweilige Vertretung eines der regelmäßig ausfallenden Arbeitnehmer übertragen wird. Der EuGH führt in seiner Entscheidung zunächst aus, dass die Vertretung vorübergehend abwesender Mitarbeiter grundsätzlich als Sachgrund europarechtskonform sei. Die zuständigen Stellen müssten aber bei Vorliegen eines sachlichen Grundes „erforderlichenfalls alle mit der Verlängerung dieser Arbeitsverträge oder verhältnisse verbundenen Umstände berücksichtigen, da sie Hinweise auf einen Missbrauch geben können“, den das Europarecht verhindern soll. Allein aus dem Umstand, dass ein dauernder oder wiederholter Bedarf an Vertretung durch unbefristete Verträge abgedeckt werden könnte, folge nicht, dass ein Arbeitgeber missbräuchlich handelt, der den Bedarf durch befristete Arbeitsverträge abdeckt. Ein sachlicher Grund im Sinne der „Rahmenvereinbarung über befristete Verträge“ schließe einen Missbrauch grundsätzlich aus. Allerdings könne eine umfassende Prüfung der mit der Verlängerung der befristeten Arbeitsverträge oder verhältnisse verbundenen Umstände zeigen, dass ein nicht nur vorübergehender Bedarf an den vom Arbeitnehmer zu erbringenden Leistungen besteht. Mit anderen Worten: Es sei Sache des nationalstaatlichen Gerichts, zu beurteilen, ob die Beschäftigung eines Arbeitnehmers für die Dauer von elf Jahren mittels 13 aufeinanderfolgender befristeter Verträge mit europäischem Recht im Einklang stehe. Auswirkungen auf die Praxis: Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts steigen mit der Zahl der Befristungen auch die Anforderungen an die vom Arbeitgeber vorzunehmende Prognose, ob bei vorübergehendem Mehrbedarf an Arbeitskräften im Zeitpunkt des Vertragsschlusses mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist, dass für die Beschäftigung des Arbeitnehmers über das vereinbarte Vertragsende hinaus kein Bedarf besteht (siehe etwa Urt. v. 25.08.2004 = NZA 2005, 357). Ob es europarechtlich geboten ist, mit zunehmender Zahl und Dauer der Befristungen strengere Anforderungen an den sachlichen Grund der Befristung zu stellen, wollte das Landesarbeitsgericht Köln in einem Vorlagebeschluss vom 13.04.2010 (7 Sa 1224/09) wissen, (Rechtssache „Jansen“, Aktenz. beim EuGH: C-313/10). Der Rechtsstreit hat sich zwischenzeitlich erledigt. Der EuGH hat mit der „Kücük“-Entscheidung klargestellt, dass bei Kettenbefristungen im Fall des ständigen oder wiederholten Vertretungsbedarfs grundsätzlich der sachliche Grund der Vertretungsbefristung vorliegen dürfte, aber eine zusätzliche Missbrauchskontrolle stattzufinden habe, bei der auch die Zahl und Dauer der einzelnen befristeten Arbeitsverhältnisse eine Rolle spielen muss. Welche genauen Konsequenzen sich hieraus im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweislastverteilung im Prozess ergeben, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Das Bundesarbeitsgericht wird nun darüber entscheiden müssen, ob im vorliegenden Fall – 13 aufeinanderfolgende Vertretungsbefristungen in elf Jahren - eine missbräuchliche Gestaltung vorliegt. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts – erhöhte Anforderungen an die Prognose bei steigender Zahl konsekutiver Befristungen – geht davon aus, dass die Prognose einen Teil des „sachlichen Grunds“ selbst darstellt und der Arbeitgeber im Prozess die tatsächlichen Grundlagen für die Prognose darlegen muss. Werde die Prognose durch die nachfolgende Entwicklung bestätigt, bestehe eine ausreichende Vermutung dafür, dass sie hinreichend fundiert erstellt worden sei. Es sei dann Aufgabe des Arbeitnehmers, Tatsachen vorzubringen, die die Richtigkeit der Prognose im Zeitpunkt des Abschlusses des Zeitvertrags in Frage stellten. Dr. Bert HowaldRechtsanwaltFachanwalt für ArbeitsrechtAnwaltskanzlei Gaßmann & Seidel, Stuttgart
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