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Zerbrechlicher Himmel
Nahrim versucht, seine über den Augäpfeln zusammenklebenden Lider aus ihrer Verkettung zu lösen, sie nach oben zu stülpen. Er zieht die Brauen hoch, schiebt sie in langsamen, zeitlupenartigen Zuckungen seine Stirn hinauf. Am rechten Auge beginnt die harte Kruste zwischen Ober- und Unterlid aufzubrechen, aus den Wimpern bröckelt Salz. Links tröpfelt eitriges Blut aus der Geschwulst um den entzündeten Augenhof. So langsam, wie Nahrims Augenlider sich von ihrem Panzer befreien, dringt das nach Verwesung riechende dickliche Gemisch aus dem wunden Gewebe hervor, zieht die Spur eines trägen Flusses entlang seiner Nase und verhärtet sich an seiner Oberlippe zu einem kraterähnlichen Gebilde.
Er spürt, wie eine Hand ihm das Gesicht abwischt.
Das Blau kommt zurück, als der Himmel wieder durch sein rechtes Auge dringt. Das Blau begrüßt ihn als Augenpaar, zu dem die schützende Hand gehört. Sie tragen ihn weg vom Wasser. Das Blau bleibt und breitet sich aus als zerbrechlicher gläserner Himmel hinter seinem nun wieder geschlossenen Lid.
Was Nahrim drei Wochen vorher als letztes Bild der Welt visuell wahrnahm, nachdem die zwei Männer die tote Mutter zwischen den schwitzenden Leibern im dunklen, schwitzenden Bauch des Schiffes herausgezerrt und nach oben katapultiert hatten, war der Streifen zwischen Blau und Blau, weit draußen, wo Meer und Himmel zusammenfließen. Die Männer hatten die in den Schiffsbauch führende Luke nicht sofort wieder versperrt und Nahrim war ihnen gefolgt bis zur Reling, von wo sie seine Mutter ins Meer warfen. Als sie ihn entdeckten, knallte ihm der kleinere der beiden Männer die Faust auf das linke Auge. Dann warfen sie ihn die Luke hinunter. Es war wieder Nacht. Lange, lange Nacht. Und die Nacht fing an, doppelt zu zählen. Denn nach Nahrims linkem Auge schloss sich auch bald sein rechtes unter der bestialischen Wolke aus Staub, Schweiß, Erbrochenem, Urin, Kot und Salz, die sich im Bauch des Schiffes ausgebreitet hatte und alles in ihm zusammengepferchte, erbarmungswürdige Leben in Geiselhaft nahm. Es schlossen sich auch die Augen der Anderen, die die Hoffnung auf ein besseres Leben dem Abgrund der Gier preisgegeben hatte. Die beiden Verheißer der guten Zukunft stiegen jeden zweiten Tag mit Gasmasken vor dem Gesicht in das dunkle Loch hinab. Sobald sie die Luke öffneten, bohrte sich das gleissende Licht gleich harten Speerspitzen in die übersensibel gewordenen Köpfe und ließ die Hände der Menschen nach oben vor ihre Augen schnellen, als könnten sie deren Empfindsamkeit schützen vor dem Schmerz. Die zwei Männer holten die Toten aus dem Schiffsbauch herauf und stellten Blechkanister mit Hirsebrei, altem Brot und Wasser hinunter. Die verklebten Augen bewahrten die Menschen davor, sich sehen zu müssen beim Keilen ums Brot. Nahrims kleiner Körper schlüpfte zwischen den großen Gliedmaßen durch, an ihnen vorbei, dem Geruch der Nahrung folgend. Der erste Griff in die noch vollen Kanister sicherte sein Überleben.
Nahrim ist ein Junge von zwölf Jahren.
Etwas klein für sein Alter, doch geschmeidig und geschickt bei der Herstellung der Lehmziegel, beim Bauen, beim Wassertragen und beim Hüten der weißen Rinder. Niemand macht ihm etwas vor beim Navigieren des langen, mit Schnitzereien reich geschmückten Bootes, das ihm vom Vater geblieben war. Vom Vater, dessen verblutenden Körper fremde Eindringlinge ein Jahr zuvor an die Tür ihrer Hütte geworfen hatten.
Nahrims Gesicht ist fein gezeichnet. Das schwarze Gekräusel umrundet seinen Kopf wie ein Schein aus Ebenholz und wenn er lacht, strahlen die Freude und der Schelm in seinen Augen um die Wette.
Wir alle würden Nahrim lieben. Wir würden nicht aufhören wollen, ihm übers Haar und über seine glänzende dunkle Haut zu streichen.
Nahrims Himmel brach zum zweiten Mal mit dem Aufprall der Mutter im Meer und dem Aufprall der Faust auf seinem Auge. Das Blau brach in viele kleine Scherben, die den Himmel, das Meer und die Mutter zerstückelten und von ihm wegtrugen. Er begann zu begreifen, dass er den Himmel durch Glas gesehen hatte, durch schimmerndes blaues Glas, das zerbrechen kann, wenn jemand mit seinen Händen Böses tut und das zerbricht, was man liebt und was man braucht zum Leben.
Nun sind die Tage kühl und weiß und leicht. Nahrim hat ein Bett, sie bringen ihm Essen und waschen ihn. Die Nächte sind von tiefem dunklen Blau. Der Himmel kommt bei Tag und bei Nacht durch gläserne Fensterscheiben, die nicht zerbrochen sind. Das Glas verhüllt den Himmel nicht, er zeigt sich Nahrim in allen seinen prächtigen Blauschattierungen. Nahrim wünscht sich, dass der gläserne Himmel ihn beschützen und nie mehr auseinanderbrechen möge.
Das Leben hebt Nahrims Körper hoch, sendet Kraft in seine Beine, öffnet seine Augen.
Sie nehmen Nahrim mit in den Raum, wo ihr Gott wohnt. Er schaut nicht lange nach vorne. Sein Blick wandert an den hohen, schmalen, farbigen Glasscheiben entlang, die den Himmel von ihm trennen. Auf ihnen sieht er Bilder, die ihm fremd sind. Ihre Farben lassen das Blau des Himmels nicht durchdringen.
Unruhig geworden, verlässt Nahrim seinen Platz auf der Kirchenbank, geht nach hinten, beobachtet immer noch, ob er den Himmel auf den hohen Fenstern finden kann. Da ? in der Mitte des zweiten Fensters eröffnet sich seinen Augen eine runde blaue Fläche. Doch Nahrim erkennt, dass es nicht das Blau des Himmels ist, sondern blau gefärbtes Glas, das den echten Himmel verdeckt. Seine rechte Hand gleitet suchend über den kühlen Stein, der das geweihte Wasser birgt. Er greift nach dem von einem Kirchgänger am Rande des Beckens abgelegten, metallbeschlagenen Gebetbuch und zielt damit auf das gläserne Blau, das ihm den Himmel vorgaukelt. Als die Scheibe bricht, sieht Nahrim seinen Himmel wieder. Seinen Himmel des Schutzes, unerreichbar und uneinnehmbar von den Begierden weltlicher Wesen.
Sie packen ihn und bringen ihn hinaus.
Festgeschnallt auf dem Bett wünscht sich Nahrim, dass der Mann kommen möge, der seine Sprache versteht. Einmal hat er ihn erst besucht, ein einziges Mal nur, in den Tagen des Anfangs dieser neuen weißen Welt. Nahrim möchte ihm die Geschichte vom Glas im Himmel erzählen. Und ihn bitten, trügerisches Glas für immer aus den Verheißungen des Himmels zu entfernen.
Am Gang stehen zwei Männer in Weiß. Einer sagt:
?Es sind nun mal Wilde. Ihnen ist nichts heilig. Wir sollten sie wirklich alle wieder nach Hause schicken.?
c / Esther Hebein
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