Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Akademischen Grades eines Dr. Phil. vorgelegt dem Fachbereich 12 Sozialwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität zu Mainz von Lothar M. Penning aus Bitburg-Mötsch Referent: Prof. Dr. Helmut Schoeck Korreferent: Prof. Dr. Werner D. Fröhlich Tag der mündlichen Prüfung: 19.6.1984
VORWORT Im Gegensatz zu anderen Emotionen fehlt beim Ekel bisher eine systematische Erforschung. Über Lust, Angst und Aggression ist eine Legion von Büchern und Zeitschriftenartikeln publiziert worden, zum Ekel hingegen liegen bisher ein gutes Dutzend Veröffentlichungen vor, die voneinander so gut wie keine Notiz nehmen und deshalb alles andere als eine Forschungstradition begründen. Selbst FREUD, der im Ekel einen wichtigen sexuellen Hemmmechanismus sah, hat sich seiner immer nur beiläufig angenommen - eine umfassende, theoretische Ausarbeitung ist auch bei ihm unterblieben. Es ist möglich, dass viele das Thema als zu ekelhaft betrachten, oder daß sie fürchten, vom Untersuchungsgegenstand könnten Rückschlüsse auf den Autor gezogen werden. Der Verfasser jedenfalls fand es verwunderlich, wie viele Menschen ihn auf Anhieb überhaupt nicht oder falsch verstanden, wenn er ihnen mitteilte, daß er eine Arbeit über den Ekel abfasse. Dabei spielt dieser nicht nur im Seelenhaushalt des einzelnen, sondern auch im öffentlichen Leben eine ständige und wichtige Rolle. Politische Gegner werden als Schmutzfink, Dreckschleuder, Totengräber oder Ungeziefer, als Ratten und Schmeißfliegen oder Tiere, auf die für Menschen gemachte Gesetze keine Anwendung finden könnten, abqualifiziert, um gegen diese Polizeieinsätze zu rechtfertigen, deren Methoden von Entomologen ausgearbeitet sein könnten. Das Schimpfwort vom "Sozialparasiten" macht, in Zeiten knapper Sozialkassen die Runde. "Parasitismus" gilt in der Sowjetunion als Straftatbestand und als Instrument, unbequeme Zeitgenossen nicht nur strafrechtlich zu belangen, sondern auch sozial zu diskreditieren. Mit dem gleichen Sprachgebrauch haben der SS-Staat und andere totalitäre Systeme Minoritätenprogrome legitimiert. Doch auch auf der objektiveren Ebene gesetzlicher Bestimmungen entscheidet der subjektive Ekel über die Genießbarkeit von Nahrungsmitteln oder die Zumutbarkeit der ehelichen Gemeinschaft. Das "gesunde Volksempfinden" definiert sich oft auch durch die angenommenen durchschnittlichen Ekelgrenzen des kleinen Mannes. Vielfach wird versucht, den Ekel der Angst als Sonderform unterzuordnen, meist unter Hinweis auf den Abwehrcharakter beider Regungen. Ekel jedoch tritt nicht nur bei anderen Anlässen als Angst auf, das physiologische Reaktionsschema ist auch gänzlich verschieden, beinahe entgegengesetzt. Typisch für letztere erweist sich die sympathikotone Reaktion: Erbleichen, Gänsehaut, Austrocknen von Mund und Rachen. Beim Ekel hingegen setzt eine erhöhte Sekretion der Speicheldrüsen sowie eine leichte Verstärkung der Kopfdurchblutung ein. Bei der Scham ist die vagotone Stimulierung durch Schluckenmüssen und Erröten noch deutlicher ausgeprägt. Sich schämen hängt also mit sich ekeln enger zusammen als sich fürchten. Eine genauere Erklärung dessen möge jedoch späteren Kapiteln dieses Buches vorbehalten bleiben. Die Frage, was denn nun der Ekel sei, lässt sich nicht mit einer Definition beantworten. Soviel kann indessen gesagt werden: es handelt sich um einen sozialen Mechanismus, der kulturell bedingt und pädagogisch vermittelt sich den primitiven Brech- und Würgereflex zunutze macht, um die vorrational erworbene, soziale Basisidentität zu schützen. Anhand der historischen, geographischen, kulturellen und biographischen Relativität des Ekels lässt sich das belegen sowie gleichzeitig eine biologistische Invariantenlehre ausschließen. Der Ekel ist auf das Engste mit der Selbstdefinition des Menschen - und damit mit seiner soziologischen Evolution - verknüpft. Wenn auch dies eine einfache Bestimmung des Phänomens nicht, gestattet, so hoffe ich doch, dass, nachdem bisherige Erklärungsversuche anderer Autoren vorgestellt worden sind, der Rundgang über verschiedene Felder des Ekels erscheinen lässt, was dessen Wesen sei.
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