aus: geschichte.transnational,
Tagungsberichte, 21.11.2014
von Norbert Fabian
Am Anfang stand eine beeindruckende Rede des Bundespräsidenten. Joachim Gauck trug zum Thema des Historikertages ‚Gewinner und Verlierer’ insbesondere sozialethische Überlegungen bei, und er sah in der Geschichte eine „moralische Ressource“. Im Blick auch auf die biblische Geschichte betonte er: „Verlierer müssen nicht Verlierer bleiben.“ In einer wirkungsgeschichtlichen Perspektive und durch eine kritische Geschichtsschreibung könnten scheinbare Verlierer letztlich doch zu Gewinnern werden. Allein historisch zu beantworten sei die Frage nach Scheitern und Leid in der Geschichte aber nicht.
Wer dann bei der gut besuchten Diskussion zwischen Christopher Clark und Gerd Krumeich die wissenschaftliche Austragung einer historischen Kontroverse über den Beginn und die Schuld am Ausbruch des ersten Weltkrieges erwartet hatte, wurde enttäuscht. Obwohl Clark erneut nur von einer „Mitschuld“ angeblicher deutscher „Schlafwandler“ sprach, widersprach ihm Krumeich kaum – anders als in seinen neueren Publikationen, in denen er in der Tradition von Fritz Fischer eine Hauptschuld und Verantwortung führender deutscher Militärs und der Reichsleitung aufzeigt (vgl. Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2014, S. 143ff, 184ff, etc.; zudem A. Mombauer, Die Julikrise, München 2013; W. Wette, Seit hundert Jahren umkämpft: Die Kriegsschuldfrage, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9, 2014, S. 91-101). Hier wurde auch vom Moderator Johannes Paulmann vom Deutschen Historikerverband eine Chance vertan, historiographische Differenzen darzulegen und eine weitere historische Klärung in der Sache zu versuchen.Vergleichsweise unterschiedlich verlief hingegen die Sektion zur jüngeren Zeit-geschichte über ‚Die Friedensbewegung in der geschichtswissenschaftlichen Kontroverse’. Unter recht unkritischer Berufung auf sowjetische Aussagen und Stasiquellen versuchte Michael Ploetz die westliche Friedensbewegung als weitgehend kommunistisch gesteuert hinzustellen. Benjamin Ziemann, die niederländische Historikerin Beatrice de Graaf sowie Diskussionsbeiträge auch von Zeitzeugen verwiesen dagegen auf den maßgeblich-mehrheitlichen Einfluss von christlich, sozialdemokratisch und ökologisch motivierten Gruppierungen in der Friedensbewegung in West und Ost und bei Massendemonstrationen (beachte u.a. H. Zander, Die Christen und die Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten, Berlin 1989). Thematisiert wurden zudem in der Bevölkerung weit verbreitete Ängste vor dem damaligen atomaren Raketenwettrüsten (zu deren Berechtigung und zur damals akuten Gefahr eines Atomkrieges aufgrund von Fehleinschätzungen G. Schild, 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn 2013, S. 155ff).
Über Gewinner und Verlierer in der europäischen Arbeitswelt und Gesellschaft seit den 1970er Jahren diskutierten mehrere Sektionen des Historikertages. Lutz Raphael stellte das Aufkommen einer Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland und vor allem Großbritannien heraus (Lit. A. Doering-Manteuffel, L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20123, etc.). Auswirkungen von Flexibilisierungen und Verkürzungen von Arbeitszeiten analysierte Dietmar Süß. Eher offen blieb, ob die insbesondere in Großbritannien aufgekommene ‚Finanzindustrie’ und soziale Dienstleitungen nicht unterschiedliche soziohistorische Phänomene sind und ob die technologisch-industrielle Wertschöpfung nicht doch weiter zugenommen hat. Kontrovers erörtert wurde auch, ob die 70er Jahre in Frankreich und Großbritannien verlorene Jahre waren oder eher ambivalent zu beurteilen sind. Dabei weniger in den Focus kamen möglicherweise verpasste Chancen unter der konservativen Thatcher-Regierung in den 80er Jahren: Inwieweit war anstelle von Deindustrialisierung ein gestalteter Strukturwandel auch in der britischen Montanindustrie wie etwa in Deutschland möglich und inwieweit gibt es gegenwärtig noch Chancen für eine erneute, verstärkte Reindustrialisierung?
Versuche, Kursgewinne im computerisierten Hochfrequenzhandel weitgehend automatisiert abzuschöpfen, beschrieb der Schweizer Wirtschaftshistoriker Jakob Tanner in der Sektion ‚Kasinokapitalismus und Kommerzkick: Konvergenzen von Wirtschaft und Spiel im 20. Jahrhundert’. Weniger überzeugend wirkte allerdings seine Ablehnung von interdisziplinär indessen vielfach üblichen Unterscheidungen von Finanzmärkten und Realwirtschaft. - Juliane Czierpka und Peter Römer verwiesen ihrerseits auf die Kommerzialisierung im Bundes-ligafußball und eine indessen überwiegende Abhängigkeit der Profivereine von Einnahmen aus Medienrechten. Problematisiert wurde, inwieweit es bei Börsenspekulationen oder Planspielen in Wirtschaft und Politik überhaupt um „Spiele“ geht, da letztlich Schicksale von Menschen, Unternehmen und ganzen Volkswirtschaften davon betroffen sein können.
In der englischsprachigen, von Dominic Sachsenmaier moderierten Sektion ‚State and Capitalism in China and Europa’ kam die neuere, vergleichende Globalgeschichte zur Geltung. Im Mittelpunkt stand das von dem US-Wirtschaftshistoriker Kenneth Pomeranz vertretene Konzept einer aufkommen-den „Great Divergence“ zwischen dem sich industrialisierenden Großbritannien und China andererseits (Princeton 2000). In der Tradition von Braudel verwies Jürgen Kocka u.a. auf den Handelskapitalismus und umfangreiche Kreditaufnahmen bereits im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Europa. Peer Vries stellte im Anschluss an Schumpeter die Bedeutung von Innovationen heraus und urteilte eher negativ über das chinesische Wirtschaftspotential im 19. Jahrhundert, welches Pomeranz für das 18. Jahrhundert noch recht hoch einschätzte (vgl. Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums. England, China und die Welt in der frühen Neuzeit, Göttingen 2013, S. 431ff). Neu diskutiert wurde die Nutzung von regenerativen Wassermühlen bei frühen Industrialisierungsprozessen - teils recht kontrovers der Einfluss von Kriegen auf Wirtschaftsentwicklungen in Europa und China.
Der Göttinger Historikertag endete mit einem wiederum beeindruckenden Vor-trag eines Soziologen, der sich auch der Diskussion stellte: Hans Joas versuchte im Blick auf der Geschichte der Sklaverei und des Abolitionismus eine häufige Ambivalenz und Schattenseiten auch von Menschenrechtstraditionen aufzuweisen. Etwas zu kurz kam dabei allerdings die Relevanz von Widerstands- und Exodustraditionen für die Sklavenemanzipation.
Kontakt: Lic. Norbert Fabian, Duisburg - nobfabian@t-online.de
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