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UMZÜGE
von VOLKMAR ZIMMERMANN / Geschäftsleiter des Landgerichts Itzehoe
Es war für behinderte Menschen entwürdigend, wenn sie samt Rollstuhl in Ermangelung einer Aufzugsanlage von vier Justizwachtmeistern über enge Treppen in den Behelfs-Sitzungssaal 65 in das Dachgeschoss im Landgerichtsgebäude „Neubau“ (erbaut 1954) getragen werden mussten. Der Zustand der sanitären Anlagen entsprach bei Weitem nicht mehr dem aktuellen Standard – und führte bisweilen zur großen Erheiterung des Publikums. Kellerarchive im „Westerhof“ (erbaut 1856), großflächig von Schimmelpilz befallen, durften nach den Empfehlungen des Betriebsarztes von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur für max. 30 Minuten täglich betreten werden; das Anlegen einer Atemschutzmaske (die DIN-Norm ist abhanden gekommen) wurde dabei dringend angeraten. Die mit der Instandhaltung der Landgerichtsgebäude beauftragte Landesbauverwaltung hatte längst aufgegeben; nachhaltige Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen wurden – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr angegangen; Reparaturstau wurde im Laufe der Jahre zum Programm. Diese Not machte gelegentlich aber auch erfinderisch: Es dürfte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landgerichts noch gut in Erinnerung sein, dass die Strafsitzungssäle im Neubau unter Anleitung des Justizhelfers Kreisel (gelernter Maler und Dekorateur) von den Wachtmeistern in einer Wochenendaktion neu gestrichen wurden.
Vorschläge des Energieberaters des Landes zur Verringerung der exorbitant hohen Gasverbräuche sowie dringend notwendige Brandschutzmaßnahmen gerieten regelmäßig zu einer Beschäftigungstherapie für den Geschäftsleiter, ohne dass dieser mangels eigener Haushaltsmittel an den Missständen etwas ändern konnte.
Zusätzlich mit hohem finanziellen Aufwand geschaffene Dienstzimmer in den Dachgeschossen beider Gebäude waren, wie das Landesamt für Arbeitssicherheit später feststellte, nur stundenweise – aber nicht ganztägig - nutzbar; einerseits waren die nach den Bauvorschriften einzuhaltenden Brüstungshöhen nicht eingehalten worden, andererseits verfügten einige Diensträume nur über Dachflächenfenster; erst als der Geschäftsleiter die inkriminierten Zimmer der alleinigen Nutzung durch Richterinnen und Richter zuwies (seine Notlüge: „Richterinnen und Richter arbeiten täglich weitaus überwiegend zu Hause oder in Sitzungssälen und nutzen ihre Dienstzimmer somit nur stundenweise“), wurde von der drohenden Schließung der Dienstzimmer Abstand genommen
Auch „Harald“, der Hausmarder, schlug gelegentlich zu. Beutegut versteckte er in nicht zugänglichen Dachschrägungen des Neubaus, so dass dort befindliche Dienstzimmer wegen des sich ausbreitenden Verwesungsgeruchs für regelmäßig fünf Tage nicht nutzbar waren; Ausquartierungen oder Heimarbeit der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren die Folge. Schlimmer war es da schon, wenn sich „Harald“ in die auf dem Dachboden verlegte IT-Verkabelung verbiss, so dass schlagartig ganze Bereiche des Neubaus ihre EDV nicht nutzen konnten. Irgendwie muss „Harald“ mit in das neue Gerichtsgebäude am Theodor-Heuss-Platz umgezogen sein: Kabelbisse in den Motorräumen der Dienstkraftfahrzeuge des Landgerichts sind zu verzeichnen ...
Insgesamt war der Zustand der Gebäude in der Breitenburger Straße schon in den 1990er Jahren beklagenswert. Selbst Besucher aus der ehem. DDR konnten es nicht fassen, dass ein Landgericht in einem „alten Bundesland“ so unwürdig untergebracht ist. Geflügeltes Wort der auswärtigen Anwaltschaft: „Wenn die Qualität der Rechtsprechung dem Gebäudezustand entspricht, dann gute Nacht Marie ...“.
Das Gegenteil war, wie man allenthalben weiß, immer der Fall.
Das Landgericht Itzehoe hatte am Standort Breitenburger Straße keine Zukunft mehr, wie bereits Landgerichtspräsidentin Konstanze GörresOhde nach Ablehnung der von ihr vorgeschlagenen Baumaßnahmen (Herstellung von Barrierefreiheit durch Aufzug, Verbindung der beiden Gebäude durch Übergang, Erweiterung des Neubaus mit „Stelzenlösung“ zur Erhaltung der Parkplätze am Neubau etc.) erkennen musste. Neubaupläne, noch initiiert von Konstanze Görres-Ohde und weiterverfolgt von ihrem Nachfolger Kurt Gerhard, scheiterten aus vielerlei Gründen.
Verzagtheit war jedoch nie Sache des Landgerichts Itzehoe.
So traf es sich gut, dass mit Präsident Geert Mackenroth, Vizepräsidentin Barbara Krix, Verwaltungsreferent Gerd Krüger und dem Geschäftsleiter Menschen zu Anfang des Jahrtausends zusammentrafen, die sich mit den obwaltenden unzulänglichen Zuständen nicht abfinden mochten.
Als „Trüffelschwein“ erwies sich Gerd Krüger, der – bevor dies in den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Post und den Medien überhaupt bekannt wurde – in Erfahrung bringen konnte, dass die Deutsche Post ihr Verwaltungs- und Verteilungszentrum am Theodor-Heuss-Platz 3 in Itzehoe aufgeben wolle.
Nach „verdeckten Ermittlungen“ stellte die Gerichtsleitung die Eignung des Postgebäudes für Landgerichtszwecke wie folgt fest: Gesamtfläche von ca. 5000 qm ausreichend, im Postverteilerzentrum können Sitzungssäle und Vorführzellen in ausreichender Zahl und Größe errichtet werden, der Verwaltungstrakt der Post ist nahezu 1:1 für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landgerichts nutzbar, Räume für Ausbildungszwecke (Referendare) sind vorhanden, Raum für Bücherei und Archive steht zur Verfügung, eine großzügige und offene Wachtmeisterei ist ohne nennenswerte Umbaumaßnahmen einzurichten, Schließfächer der Post sind als Anwaltsfächer nutzbar, eine Cafeteria ist vorhanden, desgleichen Teeküchen und Kopierräume auf den Stockwerken, das Foyer erlaubt die Einrichtung eines „Servicepoints“ sowie die Durchführung kultureller Aktivitäten, Barrierefreiheit ist gewährleistet (Aufzug, automatische Türen), Sicherheitsstandards können eingehalten werden, gute Parkplatzsituation, Busbahnhof vor der Tür, Bahnhof Itzehoe fünf Minuten entfernt.
Was nun folgte, kann sich der geneigte Leser sicherlich gut vorstellen: Anträge, Berichte, Erlasse, Verfügungen, Stellungnahmen, Besprechungen, Besichtigungen, Verhandlungen, Zusagen, Absagen, Irritationen, Raumpläne, Besuche von Möbelausstellungen und Tischlereibetrieben – auch in der JVA Neumünster –, Kostenberechnungen, zugeknöpfte Haushaltsabteilungen, Beteiligung von Personal- und Richterräten, Gleichstellungs- und Schwerbehindertenbeauftragten, Betriebsarzt, Fachkraft für Arbeitssicherheit, Arbeitssicherheitsausschuss, Bauamt, Kreisbrandschutzinspektor, Landesamt für Gesundheit und Arbeitssicherheit, Besuch einer Justizstaatssekretärin, Besuche von Abgeordneten, Anfragen des Bundes der Steuerzahler, Pressegespräche, Bedenkenträger, Befindlichkeiten, Unmut, Euphorie.
Eines Tages, kaum mehr erwartet (und von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern befürchtet), gab es „grünes Licht“ zur Verlagerung des Landgerichts von der Breitenburger Straße zum Theodor-Heuss-Platz.
Gut, dass sich in Erwartung des Umzuges im Landgericht rechtzeitig Projekt- und Lenkungsgruppen gebildet hatten, die sofort ihre Ergebnisse präsentieren konnten (Auszug):
Projektgruppe I – Eingangsbereich/Sicherheit – Leitung Lutz Sonntag: u.a.: ein Servicepoint ist einzurichten und ständig durch Wachtmeister zu besetzen, definierte Bereiche werde mittels Kamera überwacht, Überwachung der Kamerabilder erfolgt am Servicepoint, Bilderverglasungen im Hause nur aus Acryl – kein Glas -, Übernahme des Notrufsystems (Notruftaster in sämtlichen Räumen und Sälen, Alarm auflaufend in der Wachtmeisterei) aus dem „alten“ Landgericht, Personalzugang auch vom Parkplatz aus.
Projektgruppe II – EDV – Leitung Detlef Krebs: u. a.: Anschluss Hardware im neuen Gebäude durch IT-Teams; Unterstützung durch IT-Mitarbeiter anderer Gerichte ist gewährleistet.
Projektgruppe III – Sitzungssäle – Leitung Hedda Peters: u. a.: Strafsitzungssäle mit Podest, Zivilsitzungssäle ohne Podest, Anfertigung der Richtertische möglichst durch JVA Neumünster, ggf. Ausschreibung durch GMSH, einheitliche, verkettbare Stühle für Sitzungssäle und Wartezonen.
Projektgruppe IV – Umzug/Mobiliar – Leitung Volkmar Zimmermann: u. a.: Umzug „en bloc“, keine Sitzungen während des Umzuges, Einrichtung eines Notdienstes, Nottelefone (Handys), Geschäftsstellen sowie Richterinnen und Richter sind in räumlicher Nähe untergebracht, laufende Akten werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterin selbst ver- und entpackt, Erstellung einer „Zielliste“ zur Beschriftung der Umzugsgutes, Archivgut ca. 1000 lfd. Meter, zentrale Bücherei, „neueres Mobiliar“ wird mitgenommen, altes „Resopal- und JVA-Mobiliar“ der aufgelösten kleinen Amtsgerichte aus den 1960er Jahren, sowie die mit „RKK“ („Reichskleiderkammer“) gekennzeichneten Vorhänge werden zu Gunsten der Landeskasse verwertet/ggf. der Vernichtung zugeführt, Bildung von „Möbel-Umbauteams“ (Kevin Prox, Dirk BobethWagner, Frank Struve, Stefan Werth), Beschaffungen (Umzugsleistungen, Mobiliar, Zeiterfassungssystem, Sonnenschutz, Teppichboden etc.) ausschließlich durch die GMSH. Geschäftsleiter begleitet/überwacht die von der „Post Bauen AG“ (Bauregie) bzw. „Stadler AG“ (Bauausführung) vorzunehmenden Umbaumaßnahmen im neuen Gebäude ganztägig „vor Ort“, Besichtigung der Räumlichkeiten im neuen Landgerichtsgebäude durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter („sanftes Heranführen an die neuen Örtlichkeiten“ – „Abbau von Befindlichkeiten“) wird ermöglicht.
Projektgruppe V – Kultur/Veranstaltungen pp. - Leitung Sonja Rudorf: u. a.: Beschaffungen: Bühne im Foyer (falls finanzierbar: stationär/versenkbar), mobile Lautsprecheranlage, Rednerpult, Stapelstühle (auf Wagen transportierbar), Wiederaufnahme kultureller Aktivitäten im neuen Landgericht (Gründung eines Vereins „Kultur und Justiz").
Projektgruppe VI – Parkplätze – Dr. Frauke Wiggers/später Peter Schmidt: Die zur Verfügung stehenden 100 Parkplätze sind ausreichend, so dass keine „beschränkenden Maßnahmen“ erforderlich sind.
Geert Mackenroth und Gerd Krüger verließen das Landgericht in Richtung Sachsen bzw. Justizministerium Kiel. „Wer nicht da ist, stört auch nicht“, bemerkte ein Mitarbeiter trocken und wandte sich wieder seinen Aufgaben zu; Nachfolger/innen waren nicht in Sicht, so dass der weitere Gang der Dinge allein durch Vizepräsidentin und Geschäftsleiter zu verfolgen war. Stephanie Lüdke, jetzt Geschäftsleiterin des AG Pinneberg, wechselte an das Landgericht und nahm sich vieler Verwaltungsund Umzugsangelegenheiten an, Hartmut Schulz wurde mit Aufgaben der Vizepräsidentin betraut.
Während der Umbauphase bezog der Geschäftsleiter, wie geplant, sein „Baubüro“ im neuen Landgerichtsgebäude; mit dem Bauleiter der Post Bauen AG, Dipl.-Ing. Fründt, wurden täglich Baubesprechungen und Gebäudebegehungen durchgeführt; hierdurch war Schlimmeres zu verhindern; so etwa die Errichtung eines Zivilsitzungssaals mit dicker mittiger Betonsäule (bis heute von Stephanie Lüdke „Akropolis-Zimmer“ genannt). Während der Umbauphase geriet die „Stadler AG“ in Insolvenz; auch dank seiner Erfahrungen als für Insolvenzsachen zuständiger Rechtspfleger bei dem Amtsgericht Elmshorn wusste der Geschäftleiter Handwerker daran zu hindern, eingebaute Sachen (Sanitär, Heizkörper, Türen etc.) „herauszureißen“; nach Verhandlungen war der Insolvenzverwalter zudem bereit, die bestehenden Verträge ohne finanziellen Mehraufwand abzuwickeln. Der geplante Umzug musste schließlich um zwei Monate verschoben werden.
Der Umzug selbst vom 19. bis 22.10.2004, durchgeführt durch das Umzugsunternehmen Oskar Gerdsen aus Kiel (Werbeslogan: „Stark wie Oskar“), verlief dann völlig unspektakulär. Die Einrichtungen der Dienstzimmer und Akten gelangten dank der von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorgenommenen „Zielortbeschriftungen“ auf jedem Gegenstand/Karton sogleich an ihren neuen Standort. Nahezu zeitgleich mit dem Umzugsgut wurde das neu beschaffte Ergänzungsmobiliar angeliefert – prima koordiniert durch Andreas Winkelmann, GMSH Kiel. „IT-Anschlussteams“, gebildet aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der IT-Stellen vieler Gerichte im Lande und angeführt von Detlef Krebs, erschlossen Dienstzimmer für Dienstzimmer, Sitzungssaal für Sitzungssaal. Im Übrigen stellte sich heraus: Projekt- und Lenkungsgruppen sind eine feine Sache, im Zweifel muss aber einer „das Sagen“ haben – und das war der Geschäftsleiter, was allseits gutgeheißen wurde. Am 21.10.2004 war das Landgericht bereits wieder arbeitsfähig. Am 25.10.2004 konnte der „normale Gerichtsbetrieb“ wieder aufgenommen werden. Zwei Dinge gingen während des Umzuges dann doch schief: Eine Mitarbeiterin beklagte sich über fehlendes Papier in den Toiletten, die Farbe der von der Post übernommenen Jalousien fand nicht überall Zustimmung. Nun ja ...
Die „Haushälter“ waren zufrieden: Zur Verfügung gestellte Haushaltsmittel in Höhe von 478.000,00 € wurden (nur) in Höhe von 471.000,00 € in Anspruch genommen.
Abschließend allseits warme Worte in der offiziellen Einweihungsfeier und eine Umzugsparty der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (selbstverständlich nach Dienstschluss), von der noch heute gesprochen wird. Der Rotweinfleck auf dem Hemd des Geschäftsleiters, lieber Kollege Hans-Heinrich Wittenhagen, ging im Übrigen nie wieder heraus; da halfen auch die sofort ergriffenen Säuberungsversuche nicht weiter.
Nahezug unbemerkt blieben die von den Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfern weitgehend selbst organisierten Umzüge der Bewährungshilfestellen Pinneberg (in eine Drittanmietung), Elmshorn (in die umgebaute Hausmeisterwohnung im Amtsgericht), Meldorf (in die umgebauten Wochenendarrestzellen im Amtsgericht) und Itzehoe (in das Kellergeschoss des neuen Landgerichts).
Somit ist festzuhalten: Das Landgericht Itzehoe ist mit seinen Dienststellen der Bewährungshilfe innerhalb von fünf Jahren in neue Räumlichkeiten gezogen. Das soll uns erst einmal einer nachmachen.
Die alten Landgerichtsgebäude verfolgten den Geschäftsleiter noch einige Zeit, da von ihm Besichtigungsrundgänge potentieller Erwerber zu begleiten waren; ernstzunehmende Kaufinteressenten wechselten sich ab mit Glückrittern und Abstaubern; von Nutzung als Spielbank oder Bordell war bisweilen deutlich die Rede. Daher ist es schön, dass die Gebäude des alten Landgerichts nunmehr von einem Itzehoer Privatmann erworben wurden, der im Neubau eine Musikschule betreibt. Den Westerhof will er selbst bewohnen. Erste Rückbaunassnahmen und Renovierungsarbeiten im Westerhof bringen bereits einige in dem historischen Gebäude verborgene Schätze ans Tageslicht (z. B. Kreuzgangdecke im ehem. Anwaltszimmer, wertvolle Kacheln in den Kellern, aufwändige Holzfußböden).
Ausblick: Der Mietvertrag über das Landgerichtsgebäude am TheodorHeuss-Platz 3 endet im Jahre 2024. Nach den gemachten Erfahrungen müsste eigentlich sofort in Mietvertragsverlängerungsverhandlungen eingetreten oder mit der Suche nach neuen Standorten für das Landgericht Itzehoe begonnen werden.
(Auszug Festschrift "75 Jahre Landgericht und Staatsanwaltschaft Itzehoe 1937 - 2012")
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