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Arbeitskampf, der Begriff
Das Arbeitskampfrecht erscheint uns Gegenwartsmenschen als Selbstverständlichkeit, ist es aber nicht. Arbeitskampferöffnung erfolgt stets durch Streik. Ein Streikrecht erscheint uns Gegenwartsmenschen als selbstverständlich, ist es aber nicht. Seit unser Strafgesetzbuch (StGB) im Norddeutschen Bund 1870 in Kraft trat, ist Streikteilnahme als Erpressung nach § 253 StGB strafbar – und bestraft worden, RGSt. 21, 114 (zuvor war sie nach partikularrechtlichen Strafrechtskodifikationen Länder strafbar). An der Strafbarkeit des Streiks als Erpressung hat sich seit RGSt 21, 114 (1890) nichts geändert, nur an der Befassung der Strafgerichte mit dem Streik durch die Staatsanwaltschaften. Staatsanwälte entscheiden darüber, ob eine Straftat angeklagt wird oder nicht. In dieser Entscheidung allerdings sind sie nicht frei sondern weisungsgebunden. Über ein internes Weisungsrecht (§ 146 GVG) können die Leiter der Staatsanwaltschaften einzelfallweise steuern, ob angeklagt wird oder nicht. Über ein externes Weisungsrecht (§ 147 GVG) können deren Dienstaufsichtsbehörden, die Justizminister, einzelfallweise steuern, ob angeklagt wird oder nicht. Auf Weisung (für die es keine Formvorschriften und meist keinen schriftlichen Beweis gibt) sind nach 1890 die Einleitungen von Ermittlungen wegen Streikteilnahme und – die nach der Erfahrung RGSt 21, 114 sehr aussichtsreichen – Anklagen ausgeblieben.
Es gibt außer dem Strafgesetz § 253 Abs. 4 StGB, das für kollektive Erpressung, worunter auch der Streik fällt, eine mittlere Freiheitsstrafe von 8 Jahren androht, kein Gesetz zum Arbeitskampf. Dies Gesetz allerdings ist, wie alle Strafgesetze, Verbotsgesetz und bei der rechtlichen Bewertung des Streiks im Rahmen des Arbeitskampfs zu beachten.
Zwar wird im Grundgesetz (GG) von einem Recht zu einem Arbeitskampf gesprochen. Der mehrsinnige Arbeitskampfbegriff steht dort allerdings für etwas völlig anderes als den Arbeitskampf, zu dem Gewerkschaften aufzurufen pflegen.
Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht jede Art von Arbeitskämpfen, sondern Arbeitskämpfe zur Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.
Arbeitsbedingungen sind die Bedingungen des Arbeitens, Wirtschaftsbedingungen die Bedingungen des Wirtschaftens.
Arbeitskämpfe zur Wahrung und Förderunge sowohl von Arbeitsbedingungen als auch von Wirtschaftsbedingungen sind demnach „Kämpfe“ um oder mit Maßnahmen, die entweder den Standard der Arbeitsbedingungen und der Wirtschaftsbedingungen konstant halten (=wahren). Oder „Kämpfe“ um oder mit Maßnahmen, die sowohl die Bedingungen des Wirtschaften als auch die Bedingungen des Arbeitens verbessern (=fördern). Oder schließlich „Kämpfe“ um Maßnahmen, durch die unter Wahrung der Standards des Arbeitens die Bedingungen des Wirtschaftens – oder unter Wahrung der Standards des Wirtschaftens die Bedingungen des Arbeitens verbessert werden.
Kämpfe mit oder um Maßnahmen, die die Bedingungen des Arbeitens zu Lasten der Wirtschaftsbedingungen verbessern, sowie Kämpfe mit oder um Maßnahmen, die die Bedingungen des Wirtschaftens zu Lasten der Arbeitsbedingungen verbessern, und erst recht Kämpfe mit oder um Maßnahmen, die die Bedingungen des Wirtschaftens und des Arbeitens zu Lasten der Wirtschaftsbedingungen und der Arbeitsbedingungen verändern, erfüllen nicht den Arbeitskampf-Begriff des Art. 9 Abs. 3 GG.
Die hierzulande geläufigen gewerkschaftlichen „Arbeitskämpfe“ sind keine Kämpfe mit oder um Maßnahmen, die die Bedingungen des Arbeitens und die Bedingungen des Wirtschaftens fördern oder doch zumindest wahren.
Anders als der Arbeitskampf in Art. 9 Abs. 3 GG meint gewerkschaftlicher Arbeitskampf nicht Kampf um Optimierung des Arbeitens - und schon gar nicht Optimierung des Wirtschaftens - sondern Kampf der Arbeitenden. Der Begriff Arbeit steht in der Formel vom Konflikt zwischen Kapital und Arbeit für die Arbeitenden in ihrem Klassengegensatz zu den Kapitaleignern – nicht etwa für Arbeitsplätze, Arbeitsverhältnisse oder Arbeitsverträge.
Der gewerkschaftliche Arbeitskampfgedanke geht auf die Vorstellung zurück, daß überall Ausbeutung herrsche, und wer als Ausgebeuteter nicht gegen seine Ausbeuter kämpfe, von diesen ausgebeutet werde. In dieser Weise stünden sich Arbeiter bzw. Arbeit und Kapitalisten bzw. Kapital in einem unausweichlichen Klassenkampf gegenüber. Dieser Kampf gegen Ausbeutung sei als Arbeitskampf unausweichliche Aufgabe der Arbeiterklasse.
Auf die Beschäftigten übt diese Betrachtungsweise allerdings eine geringe Faszination aus – mit abnehmender Tendenz.
Sechs Siebtel der Arbeitnehmerschaft solidarisieren sich nicht mit einer solchen "Klasse" sondern lehnen die Vertretung durch einen Arbeitskampfverband, die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und die Teilnahme an deren Arbeitskämpfen aus guten Gründen ab.
Nur 14 % der Arbeitnehmerschaft sind gewerkschaftlich organisiert (Zahlen aus dem Jahre 2010: iw-Gewerkschaftsspiegel Nr. 1 vom 24.02.2012).
Arbeitskampf wird von den Gewerkschaften propagiert als ein Kampf um die Verbesserung von Verteilungsgerechtigkeit im Verhältnis zu den Arbeitgebern.
Verteilungsgerechtigkeit allerdings, nämlich ein Ausgleich zwischen Menschen, an die zu viel verteilt ist, und solchen, an die zu wenig verteilt ist, wird im Arbeitskampf von den Gewerkschaften überhaupt nicht angestrebt.
Folge des Arbeitskampfes sind Verlust von Arbeit, Vernichtung und Verhinderung von Arbeitsplätzen sowie, als unmittelbare Folge der arbeitskämpferisch erstrittenen Lohnsteigerungen: Preissteigerungen über die gesamte Wirtschaft hinweg, d. h. Geldentwertung. Die Geldentwertung vernichtet laufend Geldvermögen; davon betroffen sind u. a. alle privat sowie über die gesetzliche Altersvorsorge angesammelten Ersparnisse.
Diese Fakten werden von den meisten gesehen und sprechen dagegen, das System Arbeitskampf zu unterstützen. Es rechnet sich nicht.
Zahlenmaterial hierzu finden Sie hier.
Arbeitskampf und Recht
Erpresserischer Arbeitskampf als Selbstjustiz zur Durchsetzung von Gerechtigkeit paßt nicht in unser Recht.
Der Rechtsstaat, in dem wir leben, bietet lückenlosen Rechtsschutz vor staatlichen Gerichten für alle denkbaren Rechtsansprüche, sodaß es für Selbstjustiz, außer in Notwehr- und anderen Situationen, in denen staatliche Hilfe nicht rechtzeitig erlangt werden kann, keine Rechtfertigung geben kann.
Obwohl das jedem Juristen geläufig ist, hindert es Arbeitsrichter seit 1955 nicht mehr daran, den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern ein Recht auf Arbeitskampf, also ein Recht auf Selbstjustiz zur Durchsetzung von Begehrlichkeiten (sog. „Forderungen“) zuzugestehen.
Daß der Arbeitsrichter dabei gegen sein eigenes Gewissen ankämpfen und eine moralische Hemmschwelle zu überwinden hat, zeigt der prominente Arbeitskampfbefürworter Otto Rudolf Kissel, der vom 01.01.1981 - 31.01.1994 an der Spitze des Bundesarbeitsgerichts gestanden hat, im Vorwort seiner Arbeitskampf-Monographie aus dem Jahre 2002. Er führt in das Thema Arbeitskampfrecht ein mit der Formulierung:
„Der Arbeitskampf ist eine ganz besondere Erscheinung in unserem Arbeitsleben, ist ein historisch entstandenes gesamtgesellschaftliches Phänomen; vieles ist im Arbeitskampfrecht „unstreitig" geworden und hat fast schon Merkposten-Qualität, dennoch ist der Arbeitskampf ein von Zweifeln geschütteltes, unstetes Rechtsinstitut: Denn es ist in unserer Rechtsordnung ungewöhnlich, daß durch die Verweigerung der Erfüllung einer bestehenden Verpflichtung gezielt Druck auf den Vertragsgegner ausgeübt wird, was für diesen in aller Regel mit erheblichen Schäden verbunden ist und oft auch für unbeteiligte Dritte, nicht immer unbeabsichtigt. Dieser Druck ist das als zulässig anzusehende Mittel, den Vertragsgegner/partner gefügig zu machen für einen Vertragsabschluß, den dieser „freiwillig" nicht will, aber den Vorstellungen des Angreifers möglichst entsprechen soll, und dies mit dem Siegel der Rechtmäßigkeit — ungewöhnlich und jenseits der Vorstellungen des BGB von den Umständen eines Vertragsabschlusses.“
Das am 01.01.1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) hatte, ebenso wie alle vorangegangenen Gesetze des Zivilrechts, die Vertragsfreiheit und mir ihr die Freiwilligkeit rechtsgeschäftlichen Handelns zum Gesetz erhoben – strafbewehrt durch § 253 StGB.
Erstmalig 1954 hat in Deutschland ein höchstes Fachgericht die Arbeitsverweigerung, die auf Streikaufruf einer Gewerkschaft erfolgte, für rechtmäßig erklären wollen.
Dies höchste Fachgericht war das 1954 errichtete Bundesarbeitsgericht (BAG). Dort hatte der Erste Senat in einem Rechtsstreit Schwager ./. Nordsee (1 AZR 165/54) über die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung zu entscheiden, die wegen Teilnahme an einem Streik ausgesprochen worden war, zu dem eine Gewerkschaft aufgerufen hatte.
Der vom Präsidenten des Gerichts Prof. Dr. Hans Carl Nipperdey geführte Erste Senat sah sich auf der Grundlage des geltenden Rechts, das einen „legitimen Streik“ bzw. einen „rechtmäßigen Streik“ bzw. ein „Recht zum Streik“ nicht vorsieht, außerstande, ohne Rechtsfortbildung zu der Feststellung zu gelangen, daß der Streik rechtmäßig ist.
Zur Rechtsfortbildung sah und sieht § 45 Abs. 4 ArbGG vor:
„Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.“
Demgemäß ersuchte der präsidentengeführte Erste Senat unter Berufung auf § 45 Abs. 4 Satz 2 ArbGG den unter dem Vorsitz des Präsidenten entscheidenden Großen Senat um ein Rechtsgutachten zu der wie folgt formulierten Rechtsfrage:
1. Ist der von einer Gewerkschaft beschlossene Streik um die Arbeitsbedingungen, der ohne fristgemäße Kündigung der Arbeitsverhältnisse durch die Arbeitnehmer durchgeführt wird, für den Arbeitgeber ein Grund zur außerordentlichen fristlosen Kündigung der streikenden Arbeitnehmer?
2. Ist der Arbeitgeber nach Beendigung eines gewerkschaftlichen Streiks beim Fehlen einer entsprechenden Vereinbarung (Wiedereinstellungsklausel, Maßregelungsverbot) verpflichtet, die von ihm vorgenommene Wiedereinstellung der entlassenen Arbeitnehmer gleichmäßig auf alle Streikteilnehmer auszudehnen, sofern ihm für die Ablehnung der Wiedereinstellung nicht andere Gründe als die der vorausgegangenen Streikbeteiligung zur Seite stehen?
Durch Beschluß vom 28.01.1955 - GS 1/54 - hat der Große Senat die vom vorlegenden Ersten Senat formulierte Rechtsfrage, gestützt auf § 626 BGB (Vertragsbruch als wichtiger Grund), wie folgt beantwortet (Entscheidungsformel des Beschlusses):
1. Der von einer Gewerkschaft ohne fristgemäße Kündigung der Arbeitsverhältnisse durchgeführte Streik um die Arbeitsbedingungen berechtigt die bestreikten Arbeitgeber, als kollektive Abwehrkampfmaßnahme die Arbeitsverhältnisse der streikenden Arbeitnehmer fristlos zu lösen.
2. Macht der bestreikte Arbeitgeber von seinem in Ziffer 1 bezeichneten Recht Gebrauch, so steht die Wiedereinstellung der entlassenen Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitskampfes beim Fehlen einer Wiedereinstellungsklausel in seinem unternehmerischen Ermessen. Dies Ermessen darf jedoch nicht offensichtlich mißbräuchlich ausgeübt werden.
Diese BAG-Entscheidung referiert das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in der Entscheidung, in der es erstmalig in seiner Rechtsprechung ein Streikgrundrecht annimmt, BVerfGE 84, 212 (Aussperrungsbeschluß), mit folgenden Worten:
„Im Beschluß vom 28. Januar 1955 (BAGE 1, 291) erkannte er [= der Große Senat des BAG] Streiks, die um günstigere tarifliche Regelungen der Arbeitsbedingungen geführt werden, grundsätzlich als rechtmäßig an.“
Dies ist das Gegenteil dessen, was der Große Senat am 28.01.1955 entschieden hatte, eine Fehlinformation des BVerfG über ein Judikat des Großen Senats des BAG.
Es ist aus einem Text abgeleitet, der als "Leitsätze" mit einer gekürzten Fassung des Beschlusses verbreitet worden ist, aber nicht vom Großen Senat stammt und nicht Bestandteil der der authentischen Gerichtsfassung des Beschlusses ist.
Während die Veröffentlichung des Beschlusses in BAGE 1, 291 ohne Entscheidungsformel erfolgt ist, sind der veröffentlichten Fassung folgende "Leitsätze" in einer Anordnung hinzugesetzt, die vermuten läßt, daß es sich dabei um einen Bestandteil des Beschlusses handelt. Diese der Entscheidungsformel widersprechenden "Leitsätze" lauten:
"(1) Die rechtliche Bewertung des Streiks und des Arbeitskampfes überhaupt muß einheitlich erfolgen und seinem kollektivrechtlichen Wesen gerecht werden. (2) Bei dem legitimen gewerkschaftlichen Streik gibt diese Legitimität der Gesamtaktion ihr entscheidendes rechtliches Gepräge, so daß nicht nur die zum Streik auffordernde Gewerkschaft, sondern auch die daraufhin die Arbeit ohne Kündigung niederlegenden Arbeitnehmer nicht vertragswidrig und nicht rechtswidrig handeln. (3) Der von einer Gewerkschaft beschlossene, von den Arbeitnehmern ohne fristgemäße Kündigung durchgeführte legitime Streik um die Arbeitsbedingungen berechtigt die bestreikten Arbeitgeber nicht zur außerordentlichen fristlosen Einzelentlassung des einzelnen Arbeitnehmers oder mehrerer einzelner Arbeitnehmer wegen Vertragsverletzung. Die GewO § 123 Nr 3, § 124a, HGB § 70, § 72 Abs 1 Nr 2, LArbOV § 16, AllgBergG PR § 82 Abs 1 Nr 3, § 83a, BinSchG § 25, BGB § 626 sind nicht anzuwenden. (4) Bei dem legitimen Arbeitskampf gilt der Grundsatz der Kampfparität und der Freiheit der Wahl der Kampfmittel. (5) Die kollektivrechtlich legitime Aussperrung bedarf keiner Kündigung der Arbeitsverträge, und zwar weder einer befristeten, noch einer fristlosen Kündigung. GewO § 123 Nr. 3 und die entsprechenden Vorschriften (= wie in Leitsatz 3, darunter: BGB § 626) gelten nicht. Auch bestehen bei sofortiger Aussperrung zur Erreichung eines legitimen kollektiven Kampfzieles keine Vergütungsansprüche der Arbeitnehmer aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs."
Es ist befremdlich, daß ausgerechnet das höchste deutsche Gericht, das BVerfG, eine untadelig rechtmäßige Entscheidung eines höchsten Fachgerichts so zitiert, als habe es den - in Wahrheit von ihm ausdrücklich abgelehnten - Streik gebilligt.
Denn hätte der Große Senat des BAG so entschieden, wie vom BVerfG fälschlich behauptet, dann hätte – und das wäre ungeheuerlich! –das Bundesarbeitsgericht in dem Beschluß vom 28.01.1955 ein Recht auf Begehung von Straftaten, nämlich Erpressung (§ 253 StGB) von Verträgen, die ohne den Druckmitteleinsatz an der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber scheitern würden, ausgerufen!
Nicht minder unseriös zitieren sowohl die arbeitsrechtliche Fachliteratur als auch das BAG den Beschluß seines Großen Senats, der explizit die Rechtswidrigkeit des Streiks als Vertragsbruch verteidigte, als „Begründung eines Arbeitskampfrechts“ bzw. „Befreiung des Streiks vom Makel des Vertragsbruchs“ (so Säcker in: „Von der offenen Arbeitseinstellung zur verdeckten Betriebsblockade - Der Arbeitskampf im Wandel zum Partisanenkampf“, NJW 2010, 1115. - zum Flashmob-Urteil des BAG v. 22. 9. 2009 - 1 AZR 972/08).
Alle diejenigen, die in dem Beschluß die Begründung eines Arbeitskampfrechts sehen wollen, setzen sich darüber hinweg, daß es in jeder Gerichtsentscheidung neben solchen Textpassagen, die den Willen des Gerichts zum Ausdruck bringen, notwendigerweise auch solche Textpassagen enthalten, die keine Willensäußerungen des Gerichts darstellen, sondern den Vortrag der Kontrahenten referieren. Diese Kontrahenten sind im Falle eines gerichtlichen Rechtsgutachtens nach § 45 Abs. 1 Satz 2 ArbGG die Vertreter der Rechtsauffassung, von der der vorlegende Senat abweichen will, und der vorlegende Senat. Das Rechtsgutachten hatte folglich im tatbestandlichen Teil seiner Gründe neben der „herrschenden Auffassung“ die vom vorlegenden Senat vorgetragenen Gründe für eine abweichende Rechtsauffassung wiederzugeben – die in der Tat darauf hinauslief, den Streik vom Makel der Rechtswidrigkeit zu befreien.
Der Zitierfehler des BVerfG wie des Arbeitsrechtlers Säcker besteht darin, die Darstellung dessen, was der Große Senat entschieden hat, nicht der Entscheidungsformel sondern dem gerichtlichen Referat der Rechtsauffassung des vorlegenden Ersten Senats, der der Große Senat nicht gefolgt ist, zu entnehmen.
Dieser Fehler beruhte ganz offenbar nicht auf juristischem Unvermögen. Denn dieser Fehler wurde von Volljuristen begangen, die die Systematik von Gerichtsentscheidungen kennen, zwischen Entscheidungsformel und Gründen zu unterscheiden wissen und sich darüber im klaren waren, daß der Wille des Gerichts – im Falle eines Kollegialgerichts: der Mehrheit des Richterkollegiums – nicht in jedem Satz der Entscheidung, sondern in der eigens dafür vorgesehenen Entscheidungsformel zum Ausdruck gebracht wird.
Wer diesen Fehler nachvollziehen bzw. wissen will, wie der Große Senat wirklich entschieden hat, sollte, wenn er erkennt, daß er einen gekürzten Abdruck ohne Entscheidungsformel vor sich hat, der Darstellung in BAGE 1, 291 mißtrauen, und eine authentische Kopie des Beschlusses beim Bundesarbeitsgericht anfordern.
Daß Anlaß zu Mißtrauen gegenüber amtlichen Sammlungen der Bundesgerichte (bis auf die amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerfG) besteht, ist unter Juristen geistiges Allgemeingut.
Wie Reinhard Walker in seiner sehr verdienstvollen Arbeit (seiner Dissertation) über Die richterliche Veröffentlichungspraxis in der Kritik detailliert aufzeigt, „wird die Kürzung und Bearbeitung der Entscheidungen nicht nur für Veröffentlichungen in Zeitschriften vorgenommen, sondern sie ist selbst in den amtlichen Entscheidungssammlungen üblich.“ (Abs. 90)
Dies wird als Reduktion auf „die wesentlichen Gesichtspunkte der Entscheidungen“ ausgegeben. Das ist allerdings nicht stichhaltig, wenn man bedenkt, daß Gerichte in ihren Entscheidungen grundsätzlich nichts Unwesentliches schreiben, sodaß „der wesentliche Inhalt“ der Entscheidung nur die ungekürzte Entscheidung sein kann.
Dieses Verfahren der Veröffentlichung redigierter Entscheidungen hat sich in den letzten 150 Jahren herausgebildet und entspricht damit der ursprünglichen Aufgabe gerichtlicher Nachschlagewerke, nämlich Innendivergenzen zu vermeiden. Allerdings kann diese Darstellungsweise externe Benutzer der Sammlung, die von den zusätzlichen informellen Kommunikationsbeziehungen der Richter eines Gerichts ausgeschlossen sind, zumeist nur unvollkommen ins Bild setzen.(Abs. 93)
Walker schließt diesen Abschnitt seiner Betrachtungen mit der Feststellung:
Die Konsequenzen aus dieser nicht nur in den amtlichen Sammlungen der obersten Gerichtshöfe des Bundes üblichen Praxis sind nicht belanglos. So schrieb Blümel bereits 1966 in seinem Beitrag zur "Praxis der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen": Abs. 110
"Wer wie der Verfasser - dank dem Entgegenkommen mehrerer Gerichte - die Möglichkeit hat, die auf einem Rechtsgebiet ergangenen (vollständigen) Entscheidungen kennenzulernen und ihre Veröffentlichung (oder Nichtveröffentlichung) zu verfolgen, macht mitunter erstaunliche Feststellungen".... "Für Wissenschaft und Praxis ist es gleichermaßen unerträglich, wenn auch nur der Verdacht besteht oder bestehen bleibt, daß bei der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen in der zuvor beschriebenen Weise manipuliert wird. Abs. 110 f
All das ist Grund genug, dem Studium der in BAGE 1, 291 veröffentlichten Fassung die Arbeit mit der authentische Ursprungsfassung vorzuziehen – die problemlos verfügbar ist.
Die Pressestelle des Bundesarbeitsgerichts überläßt auf Anforderung Entscheidungsabdrucke als elektronisch gespeicherte Dateien (PDF) gegen eine Gebühr von 2,50 Euro pro eMail. So auch den Beschluß vom 28.01.1955 – GS 1/54 – .
Ähnlich wie Säcker und ebenso unseriös verbreitet der nicht minder renommierte Arbeitsrechtler Bernd Rüthers in seinem unter "Standpunkte" veröffentlichten Beitrag der F.A.Z. vom 03.02.2005, S. 16, "Von der Spielbank zum Vabanquespiel? Fünfzig Jahre richterliches Arbeitskampfrecht"
"Am 28. Januar 1955, vor fünfzig Jahren, fällte der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu einem Streik in der Hochseefischerei einen epochalen Grundsatzbeschluß, der Streiks und Aussperrungen innerhalb bestimmter Grenzen für zulässig erklärte. Gewerkschaftlich organisierte (nicht "wilde") Streiks sind demnach (nur) erlaubt, wenn sie als letztes Mittel ("ultima ratio") eingesetzt werden, um tariflich regelbare (nicht politische) Ziele zu erreichen."
Eine Pikanterie am Rande: Die – für das Ergebnis der Entscheidung nicht relevant gewordene - Rechtsbeugung Nipperdeys:
Wie oben dargestellt, war aus dem beim Ersten Senat anhängigen Rechtsstreit Schwager ./. Nordsee (1 AZR 165/54) heraus der Große Senat gem. § 45 ArbGG angerufen worden.
Den Vorsitz des Ersten Senats führte ebenso wie – kraft Gesetzes - den Vorsitz des Großen Senats der Präsident des Gerichts Hans Carl Nipperdey.
Als Mitglied des Großen Senats kam er in die Lage, gutachtlich über eine Rechtsfrage beraten und mitentscheiden zu sollen, die er selbst als Vorsitzender des Ersten Senats selbst generiert hatte.
Das begründete bei ihm die Besorgnis der Befangenheit.
Nipperdey hätte von Rechts in dem Verfahren nach § 45 ArbGG wegen seiner Mitwirkung an dem Beschluß des Ersten Senats über die Vorlage an den Großen Senat - und der daraus resultierenden Besorgnis der Befangenheit in der Mitwirkung an dem von ihm selbst veranlaßten Rechtsgutachten - die Selbstablehnung erklären und aus der Mitwirkung an der Entscheidung des Großen Senats ausscheiden müssen.
Belastet mit dieser Befangenheitsbesorgnis war er nicht gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sein.
Dadurch, daß er die Selbstablehnung ablehnte und an der Entscheidung des Großen Senats und damit an der Entscheidung über seine eigene Vorlagefrage mitwirkte, erfüllte Nipperdey den Verbrechenstatbestand der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) - wie jüngst ein wegen Rechtsbeugung verurteilter Richter des Landgerichts Freiburg, der als Mitglied einer Beschwerdekammer über eine Beschwerde entschieden hatte, die von ihm selbst verfaßt worden war; das Urteil gegen ihn ist durch Beschluß des BGH vom 05.08.2009 (1 StR 366/09) bestätigt worden.
Mit dem gesetzlich gebotenen Verzicht auf die Mitwirkung und den Vorsitz im Großen Senat hätte Nipperdey sich allerdings der – ihm als Vorsitzendem zustehenden – Kompetenz zur Regelung der Veröffentlichung des Beschlusses des Großen Senats begeben.
Diese Kompetenz war ihm wichtig. Eröffnete sie doch die tatsächliche Möglichkeit, die Art der Veröffentlichung durch Bearbeitung des Beschlusses vor der Übergabe der Druckunterlagen an den Verlag zu steuern, bei dem die Sammlung der Entscheidungen des BAG erschien. Diese Befugnis schloß den Entwurf von Leitsätzen ein, die dann nach seinen Vorgaben mit dem bearbeiteten Beschluß abzudrucken waren.
Daß eine Entscheidung mit Leitsätzen veröffentlicht wird, sieht das Gesetz zwar nicht vor, ist aber seit alters her üblich und grundsätzlich sinnvoll. Leitsätze, die jeweils ein richterliches Mitglied des Gerichts formuliert, liefern Stichwörter für die Indizierung, also das Auffinden der Entscheidung in thematisch geordneten Verzeichnissen, die den Richtern und sonstigen Rechtsanwendern als wichtige Arbeitshilfen zur Erschließung des Rechts zur Verfügung stehen. Diese Stichwörter können – auch das ist unbedenklich und sinnvoll – ganze Rechtssätze enthalten, die eine Entscheidung herausgearbeitet hat.
Es ist freilich ein Gebot richterlicher Korrektheit, die Leitsätze so zu formulieren, daß sie das Ergebnis der richterlichen Willensbildung, die in der Entscheidung unter besonderer Berücksichtigung der besonders wichtigen Entscheidungsformel zum Ausdruck kommt, richtig reflektieren.
Um sich der Möglichkeit nicht zu begeben, Leitsätze zu entwerfen, und so, wie dann geschehen, verfahren zu können, sah er von der Selbstablehnung ab und nahm trotz Befangenheit an der Beratung und Entscheidung des Großen Senats über das von ihm selbst formulierte Petitum des vorlegenden Ersten Senats teil.
Es ging ihm darum, für den Fall, daß der Große Senat der Zielvorstellung des vorlegenden Ersten Senats nicht folgen sollte, mit der Machtfülle des Vorsitzenden des Großen Senats wenigstens über die Leitsätze die Rechtsprechung zum Arbeitskampf in Richtung auf ein Arbeitskampfrecht steuern zu können.
Wie breit der Standpunkt, von dem Nipperdey Gewerkschaften und SPD zuliebe abweichen wollte, noch im Jahre 1955 in der Richterschaft der Arbeitsgerichte und darüber hinaus fundiert war, weisen die Entscheidungsgründe des Beschlusses aus mit den Feststellungen,
daß "Arbeitskämpfe unerwünscht" seien, "weil sie volkswirtschaftlichen Schaden mit sich bringen", und einer "durchaus überwiegenden, bisher herrschenden Meinung", daß "die Hauptpflicht des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsvertrag, die Arbeitsverpflichtung, widerrechtlich und schuldhaft durch Nichtleistung verletzt" wird, "wenn der Arbeitnehmer, ohne fristgerecht zu kündigen, sich am Streik beteiligt. Die Widerrechtlichkeit werde weder durch Artikel 9 GG noch durch die Bestimmungen der Verfassungen einzelner Länder über das Streikrecht, noch durch Verbandsbeschlüsse der Gewerkschaften noch durch einen Vorrang des Kollektivrechts ausgeschlossen. Die Kampfbeteiligung des einzelnen Arbeitnehmers sei somit Vertragsbruch, der den Arbeitgeber zur fristlosen Entlassung der Arbeitnehmer wegen (rechtswidriger, schuldhafter) beharrlicher Arbeitsverweigerung berechtige (vgl. besonders §§ 123 Ziff. 3 GewO, 72 Ziffer 2 HGB und 626 BGB). Außerdem seien die streikenden Arbeitnehmer gesamtschuldnerisch zum Schadenersatz verpflichtet."
Zu Unrecht wird von dem Beschluß des Großen Senats vom 28.01.1955 behauptet, er, der Beschluß, werde in der Arbeitsrechtsliteratur und –judikatur „viel zitiert“.
Doch es ist in Wahrheit gar nicht der Beschluß selbst, der zitiert wird, sondern es sind die "Leitsätze", die nicht von dem Gericht, nämlich dem Plenum des 10-köpfigen Großen Senats, beschlossen worden sind. In BAGE 1, 291 ist ein Torso des Beschlusses mit dem außerhalb des Großen Senats geschaffenen Text der Leitsätze so zusammengeführt, daß das Ensemble als Entscheidung des Großen Senats wird. Es sei denn, der Leser ist Gerichtsinsider, der die Grundstruktur von Gerichtsentscheidungen kennt, und daher argwöhnt, daß es sich bei dem Abdruck in BAGE 1, 291 um eine Kollage von Texten unterschiedlicher Provenienz handelt.
Wo immer in der "arbeitskampfrechtlichen" Literatur durch Nennung seines Aktenzeichens „GS 1/54“ zitierend auf diesen Beschluß verwiesen zu werden scheint, wird in Wahrheit auf einen verfasserlosen, anonymen Text zugegriffen, der als Veröffentlichungsverfügung mit „Leitsätzen“ in die Gerichtsakten gelangt ist.
Wer den Beschluß des Großen Senats des BAG vom 28.01.1955 - GS 1/54 - authentisch kennenlernen will, darf sich über diesen Beschluß nicht aus der Sekundärquelle BAGE 1, 291 unterrichten, sondern muß sich an die authentische Gerichtsfassung des Beschlusses halten, die ihm die Pressestelle des Bundesarbeitsgerichts auf Anforderung gern zur Verfügung stellt.
Und wenn die Entscheidungsformel des Beschlusses vom 28.01.1955 den Inhalt der Leitsätze gehabt hätte, hätte sie über die Causa Schwager ./. Nordsee (1 AZR 165/54) hinaus keine Bindungswirkung entfalten können.
Sie hätte bei der Rechtsanwendung wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Gesetz von keinem Richter beachtet werden dürfen, Art. 20 Abs. 3 GG.
Dies zu erforschen und zu lehren, ist Aufgabe der Rechtswissenschaft - die indes darüber geflissentlich und solidarisch – eigentlich unverständlich - schweigt.
Der vom Großen Senat in den Gründen des Beschlusses einhellig getroffenen Feststellung
„Arbeitskämpfe (Streik und Aussperrung) sind im allgemeinen unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen“,
hat die spätere Arbeitskampfrechtsprechung nie widersprochen. Und an der Richtigkeit dieser Feststellung, die von Adolf Weber in „Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit“ (Mohr/Siebeck, 1910 bis 1954) sorgfältig begründet worden war.
Dies alles läßt daran zweifeln, daß je ein Arbeitskampfrechtler von der Richtigkeit der Annahme eines Arbeitskampfrechts überzeugt gewesen ist.
Denn mit der Unerwünschtheit der Arbeitskämpfe und den Grundrechtsverletzungen der streikweisen Erpressung läßt sich nicht plausibel begründen, warum Arbeitskämpfe entgegen dem durch sie verletzten Straf-, Zivil- und Verfassungsrecht nicht als rechtswidrig bewertet werden dürfen.
Will der "Arbeitskampfrechtler" den rechtswidrigen, allgemein unerwünschten Arbeitskampf "vom Makel der Rechtswidrigkeit befreien": weil er Schäden mit sich bringt? Und weil er Gesetze verletzt? Kaum vorstellbar.
Die einzigen, die ohne Rücksicht auf die Schäden, die den Arbeitnehmern und anderen dadurch entstehen, ein „Streikrecht“ brauchen, sind die Gewerkschaften.
Gewerkschaften sind nicht nur die Dramaturgen der Streiks, sondern Gewerkschaften haben daneben eine andere wichtige Funktion: sie verfügen seit langem über Macht und Einfluß, Beamten-, Richter- und Politikerkarrieren zu protegieren.
Ohne gewerkschaftliches Wohlwollen hätten auch zum Beispiel die beiden Mitwirkenden an BVerfGE 84, 212, dem BVerfG-Beschluß, in dem 1991 das BVerfG erstmalig eine Verfassungsgarantie für den Streik angenommen hat (im Gegensatz zu BVerfGE 50, 290, das 1979 eine verfassungsrechtliche Gewährleistung des Tarifvertrags- und Arbeitskampfsystems abgelehnt hat), Roman Herzog und Thomas Dieterich, die darin für die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines Streikrechts eingetreten sind, ihren Sprung in die Präsidentenämter nicht geschafft: Dieterich avancierte vom Richter am BVerfG zum Präsidenten des BAG, Roman Herzog vom Präsidenten des BVerfG zum Präsidenten der Republik.
Wie diese beiden Beispiele zeigen, gibt es Richter, die bereit sind, sich um des Wohlwollens eines potentiellen Förderers der persönlichen Karriere willen über das Recht hinwegzusetzen und dabei billigend in Kauf zu nehmen, daß Schädiger unter Haftungsfreistellung unerwünschte Schäden gigantischen Ausmaßes vorsätzlich verursachen können – für die nicht nur die Verursacher sondern auch diese Richter nicht haften.
Wer um solcher Ziele willen Recht beugt, kommt lege lata für das Amt des Hochschullehrers ebenso wie für das des Richters nicht in Betracht. Seine Entfernung aus dem Amt ist gesetzlich vorgesehen, wie hier dargestellt.
Wer allerdings auf diese Weise sein Amt verloren hat, kommt auch für die Karriere nicht mehr in Betracht, um deretwillen er sich durch Rechtsbeugung um das Wohlwollen eines Gönners bemüht hatte.
© Wolfgang Höfft, Rechtsanwalt [Das Recht zur Nutzung unter Verfasserangabe ist jedermann eingeräumt]
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Zuletzt bearbeitet: 13.02.2014
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