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Wissenschaft, Lehre und Forschung: sind sie frei?
Wie staatliche Selektion unserer Professoren
den Inhalt von Lehre und Forschung
verfälscht
Von Wolfgang Höfft (Rechtsanwalt)
Dass die Klügsten der Gesellschaft wichtige Erkenntnisse liefern und die Gesellschaft sie nutzt, ist Voraussetzung dafür, dass die Zivilisation in allen technischen und gesellschaftlichen Bereichen zum Wohle vieler ein hohes Niveau erreicht. Hochschulen als Stätten der Lehre und Forschung pflegen diese Errungenschaft. Reminiszenzen an obrigkeitliche Behinderungen der Wissenschaft sowie der Verbreitung ihrer Erkenntnisse haben die Verfasser des Grundgesetzes bewogen, die Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung in den Grundrechte-Katalog der Artikel 1 bis 19 aufzunehmen. Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes gewährleistet, dass Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind. Die einzige Bindung, die diese Freiheit einschränkt, ist „die Treue zur Verfassung“. Mit diesem Inhalt gilt dies Grundrecht seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1949 unverändert. Kein politischer Reformer, welcher politischen Provenienz auch immer, hat je Hand anzulegen versucht an diese großartige Freiheitsformel.
Aber wie sieht es mit der Praxis dieser akademischen Freiheit aus, mit der Umsetzung dieser Freiheit in den Universitäten? Und wie steht es um diese Freiheit, wenn zwar die Professoren frei sind, aber der Weg zur Professur auf Lebenszeit mit dem Verzicht auf die Freiheit, seine Meinung zu verbreiten, als Voraussetzung für Promotion, Habilitation und Berufung erkauft werden muss? Der folgende Beitrag zeichnet dies nach anhand von Äußerungen eines außerhalb der Universität prominent gewordenen Hochschullehrers aus dem Fachbereich Rechtswissenschaft .
In 1998, auf dem 16. Ordentlichen Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Düsseldorf, sprach als Gastredner Prof. Dr. Roman Herzog, Bundespräsident, zu den Delegierten der Gewerkschaften. In seiner Ansprache stellte er appellatorisch einige Fragen[1], deren erste mein Thema trifft:
„Die erste Frage: Wenn es stimmt, dass Lohnzurückhaltung[2] Arbeitsplätze sichert - und Lohnzurückhaltung hat es in den letzten Jahren in erstaunlichem Umfang gegeben -, warum zögern dann viele Unternehmen, diesen Zusammenhang rascher durch ihre eigene Personalpolitik transparent zu machen? (Lebhafter Beifall) - Na, warten Sie, Sie kommen auch noch dran! (Heiterkeit) Ich glaube, es ist keine Übertreibung, wenn ich sage: Manche haben hier in der jüngsten Vergangenheit Personalabbau wie eine Art olympische Disziplin betrieben. Wer aber nur auf Börsenrekorde achtet, der verspielt sehr schnell das öffentliche Vertrauen, und das ist nicht leicht wieder aufzubauen. Ich mahne hier also die Beschäftigungsverantwortung der Wirtschaft an.“
Herzogs These, der Unternehmer, der sich von Mitarbeitern trennt, die er sich nicht mehr leisten kann, verletze „seine Beschäftigungsverantwortung“, ist zweifellos unhaltbar. Eine verantwortliche tatsächliche Beschäftigung ist untrennbar mit der Verpflichtung zur Zahlung von Arbeitsentgelten gekoppelt. Verantwortlich handelt aber nicht, wer mehr verspricht, als er leisten kann. Sondern verantwortlich handelt, wer darauf achtet, dass die Eingehung bzw. Aufrechterhaltung von Verpflichtungen die Grenze seiner Leistungsfähigkeit nicht überschreitet. Das bedeutet, dass die betriebsbedingte Entlassung - entgegen Herzog - keine Vernachlässigung von unternehmerischer Verantwortung sondern im Gegenteil ein Bekenntnis zu unternehmerischer Verantwortung ist. Ebenso verfehlt ist Herzogs Versuch, betriebsbedingte Entlassungen statt aus der Aufgabe, unerfüllbar werdende Zahlungsverpflichtungen zu vermeiden, aus dem Ehrgeiz zu erklären, im Wettlauf um Börsenrekorde „Personalabbau wie eine Art olympische Disziplin“ zu betreiben.
Seriös beschrieben, steht die positive Bewertung von Entlassungen durch den Kapitalmarkt in einem anderen Zusammenhang: Die Fähigkeit, stetig seine Belegschaft zu verkleinern und die Produktivität seiner Fertigung zu erhöhen, ist in Deutschland, das tarifvertragliche Lohnanpassung nur nach oben, aber nicht nach unten kennt, zu einer rechnerischen, und damit unabdingbaren, Bedingung längerfristigen Überlebens des gesamten produzierenden Gewerbes geworden. Die Tarifautonomie hat nämlich seit langem erreicht, dass deutsche Arbeitnehmer in ihrer überwältigenden Mehrheit meinen, dass Lohnänderungen nur als Lohnsteigerungen erfolgen dürften, und dass solche Lohnänderungen ohne Prüfung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen Jahr für Jahr zu erfolgen haben und, wenn die Arbeitgeber Widerstand leisten, erpresst[3] werden sollten. Die Arbeitsgerichte billigen dies seit 1955 ausdrücklich - seit 1991 und unter Mitwirkung des damaligen Bundesverfassungsrichters Roman Herzog mit der Rückendeckung des Bundesverfassungsgerichts[4]. Diese Entwicklung mehrheitsdeutschen Denkens hat dazu geführt, dass weder die Forderung nach kollektiv höherem Lohn noch die kollektive Vereinbarung höheren Lohns noch die Erzwingung einer solchen Regelung davon abhängig gemacht wird, ob die Leistungsfähigkeit aller betroffenen Unternehmen es zulässt, den tarifvertraglich vereinbarten höheren Lohn an alle bisher Beschäftigten zu zahlen. Zwar weiß jeder, dass zusätzliche Zahlungen nur leisten kann, wer zusätzliche Einnahmen erzielt. Wohl wissend, dass Tarifauseinandersetzungen keine Umsatzsteigerungs- und keine Ertragsverbesserungsveranstaltungen sind oder auslösen, nehmen die Akteure der Tarifrunden gleichwohl billigend in Kauf, dass für die Höhe der neuen Lohntarife der Zusammenhang zwischen Zahlenmüssen und Zahlenkönnen unberücksichtigt bleibt. Jedem, auch Herzog, musste einleuchten, dass höhere Arbeitsentgelte sich kollektiv nur realisieren lassen unter der Bedingung, dass einige der bisherigen Arbeitnehmer infolge der Lohnerhöhungen gar nicht mehr in den Genuss von Lohnzahlungen gelangen werden sondern ihre Arbeit verlieren. Gleichwohl unterschreibt Herzog als Verfassungsrichter, Vorsitzender des Ersten Senats und Präsident des Bundesverfassungsgerichts in dessen Entscheidung vom 26.06.1991 (1 BvR 779/85) [s. o. Fußnote 4], „der wesentliche Zweck der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionen sei der Abschluss von Tarifverträgen“. Der Umstand, dass Tariferhöhungen zusätzliche Unternehmenserträge nicht auslösen, zwingt jedes Mal die betroffenen Unternehmer, ihre - gleichbleibende - betriebliche Lohnsumme auf eine zu verkleinernde Zahl von Lohnempfängern zu verteilen, um jeden der Nichtentlassenen mit einem höheren Anteil an diesem Lohnkontingent teilhaben zu lassen. Dass dieser töricht erzwungene Prozess stetiger Belegschaftsverkleinerung mit der Entlassung des letzten Mitarbeiters sein trauriges Ende findet, braucht auch dem Bundespräsidenten nicht erläutert zu werden. Sobald Unternehmer des produzierenden Gewerbes in Deutschland den Punkt erreicht haben, an dem die Erledigung der betrieblichen Aufgaben in der bisherigen Qualität eine weitere Verkleinerung der Belegschaft nicht mehr zulässt, geben sie hier ihre Betriebstätigkeit auf, einige unfreiwillig im Konkurs, andere in freiwilliger Betriebseinstellung, und wieder andere setzen sie erfolgreich im Ausland fort. Dass dieser Vorgang bei den Großunternehmen von der Öffentlichkeit dort, wo er bei Verlagerung der Produktionstiefe ins Ausland wichtige Teile der bisherigen inländischen Produktion auch weiterhin im Inland belässt, kaum wahrgenommen wird, bedeutet nicht, dass die geschilderte Produktionsabwanderung dort nicht existiert. Überall, wo die Notwendigkeit der Betriebseinstellung noch nicht erreicht ist, d. h. überall wo noch Rationalisierungsspielraum besteht, werden folglich Belegschaften in Deutschland verkleinert. Die Belegschaftsverkleinerung ist nach dem verantwortungslosen Willen der „Sozialpartner“, deren destruktive Kampfmittel erst während der Verfassungsrichteramtszeit von Roman Herzog im Jahre 1991 vom Bundesverfassungsgericht in den Grundrechtsschutz des Artikel 9 Abs. 3 GG einbezogen worden sind, zum Indikator dafür geworden, ob ein Unternehmen aktuell von der Schließung bedroht ist oder mittelfristig überleben wird. Für den, der Geld anlegen will, ist natürlich die Überlebensfähigkeit des Unternehmens seiner Präferenz wichtig. Deshalb wird unter den Bedingungen deutscher Tarifautonomie die Belegschaftsverkleinerung von der Börse mit Interesse verfolgt und - aus diesem Grund - honoriert. Gäbe es das in der Tarifautonomie begründete Prinzip, dass Löhne nur nach oben flexibel sind, in Deutschland nicht, hätte auch die Entlassung von Personal nicht mehr die Bedeutung eines Indikators für Überlebensfähigkeit. Denn wenn eine Flexibilität des Lohns nach oben und nach unten den Unternehmen die Anpassung auch ohne Entlassungen erlaubt, und wenn ein langfristiges Überleben der Unternehmen auch ohne stetige Belegschaftsschrumpfung möglich wird, wird auch die Börse dem Personalabbau nicht mehr die Bedeutung beimessen, die sie ihm derzeit beimisst.
Sicherlich hat Roman Herzog sein unzutreffendes und für Unternehmer kränkendes Bild der Lage frei von gesellschaftlichem Druck entworfen. Er als Präsident der Republik kann alles sagen, was er zu sagen beabsichtigt, ohne persönlich Nachteile befürchten zu müssen. Da kein äußerer Sachzwang und kein Intelligenzdefizit erklärt, warum seine Darstellung an der Wirklichkeit so weiträumig vorbeigeht, kann nur ein innerer Zwang Herzogs die Erklärung für sein Verfehlen der Realität liefern. Den Weg zu dieser Erklärung weist die oben (Fußnote 4) zitierte Arbeitskampfrechtsprechung, an der Herzog als Verfassungsrichter mit der Vergangenheit eines Hochschullehrers mitgewirkt hat. Eine Rechtsprechung, mit der sich das Bundesverfassungsgericht in der Frage des Einbezugs des Arbeitskampfes in die Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes um 180 ° von dem 1979 - unter Benda - ergangenen Mitbestimmungsurteil[5] abkehrte. Aber diese von Herzog mitgeprägte beschäftigungsfeindliche und arbeitskampffreundliche Rechtsprechung war nicht ohne Vorbild, sondern sie lehnte sich an über eine über BAGE[6] verbreitete Fehlinformation über einen Beschluss des Großen Senats an, der seither in Bezug genommen wird als Befreiung des Streiks vom Makel der Rechtswidrigkeit, in Wahrheit aber mit der klassischen, auf § 626 BGB gestützten Begründung das Recht zur fristloses Lösung des Arbeitsverhältnisses mit einem Streikenden bestätigt hatte. Die Bereitschaft, sich an einen (wirklichen oder vorgetäuschten) Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung anzupassen, galt als Voraussetzung für erfolgreiche akademische Karrieren, nämlich für alle Juristen, die nach 1955 eine Professur angestrebt und ihre Berufung erhalten haben.
Jene Entscheidung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts bietet als Begründung dafür, dass der von einer Gewerkschaft durchgeführte Streik um die Arbeitsbedingungen die bestreikten Arbeitgeber berechtigt, als kollektive Abwehrkampfmaßnahme die Arbeitsverhältnisse der streikenden Arbeitnehmer fristlos zu lösen, folgende treffenden Ausführungen:
„Nach der durchaus überwiegenden, bisher [= bis zum 28.01.1955 und darüber hinaus] herrschenden [und bis auf weiteres richtigen] Meinung wird die Hauptpflicht des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsvertrag, die Arbeitsverpflichtung, widerrechtlich und schuldhaft durch Nichtleistung verletzt, wenn der Arbeitnehmer, ohne, fristgerecht zu kündigen, sich am Streik beteiligt. Die Widerrechtlichkeit werde weder durch Artikel 9 GG noch durch die Bestimmungen der Verfassungen einzelner Länder über das Streikrecht, noch durch Verbandsbeschlüsse der Gewerkschaften, noch durch einen Vorrang des Kollektivrechts ausgeschlossen. Die Betätigung der Arbeitskampffreiheit habe sich innerhalb der allgemeinen Schranken der Rechtsordnung zu halten, die nicht nur durch die Gesetze, sondern auch durch die vertraglichen Bindungen gezogen würden. Die Kampfbeteiligung des einzelnen Arbeitnehmers sei somit Vertragsbruch, der den Arbeitgeber zur fristlosen Entlassung der Arbeitnehmer wegen (rechtswidriger, schuldhafter ) beharrlicher Arbeitsverweigerung berechtige ( vgl. besonders §§ 123 Ziff. 3 Gew0, 72 Ziffer 2 HGB und 626 BGB). Außerdem seien die streikenden Arbeitnehmer gesamtschuldnerisch zum Schadenersatz verpflichtet."
Und an anderer Stelle:
„Arbeitskämpfe (Streik und Aussperrung) sind im allgemeinen unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen.“
Der Große Senat konnte unerwähnt lassen, dass Erpressung nach wie vor strafbar und Streik ein Beispielsfall der Erpressung ist, sowie dass die oben (Fußnote 3) zitierten Rechtsprechung, die Streikteilnahme als Erpressung bewertet, der unverändert neueste Stand der Strafrechtspflege ist. Denn dem Großen Senat war durch Vorlagebeschluss des Ersten Senats die Frage zur gutachtlichen Beantwortung vorgelegt worden, ob die Streikteilnahme den Arbeitgeber zur fristlosen Lösung des Arbeitsverhältnisses berechtige. Diese zivilrechtliche Frage ließ sich ohne Rückgriff auf das Strafrecht beantworten. Nämlich in der Formulierung der Entscheidungsformel:
„Der von einer Gewerkschaft ohne fristgemäße Kündigung der Arbeitsverhältnisse durchgeführte Streik um die Arbeitsbedingungen berechtigt die bestreikten Arbeitgeber, als kollektive Abwehrkampfmaßnahme die Arbeitsverhältnisse der streikenden Arbeitnehmer fristlos zu lösen.“
Jene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahre 1955 ist in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung aus dem Jahre 1991 zitiert, war also auch Herzog offenbar bekannt.
Die märchenhafte Annahme vom Wandel der Rechtsprechung[7] des Bundesarbeitsgerichts zum Streik im Jahre 1955, die durch den authentischen Wortlaut der Entscheidung nicht gedeckt ist, bestimmte fortan alle akademischen Karrieren in den Rechtswissenschaften, insbesondere in den Fachbereichen Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht sowie Staatsrecht. Diese prägende Wirkung vermochte diese Rechtsbeugung des Bundesarbeitsgerichts auszuüben angesichts des Umstandes, dass die Freiheit von Lehre und Forschung entgegen dem verfassungsrechtlichen Gebot des Artikels 5 GG bereits im einfachen Bundesrecht nur noch eingeschränkt respektiert wird. Noch bis Ende der 1990er Jahre sah das bundesrechtliche Hochschulrahmengesetz (HRG) verbindlich für all Länder in § 45 HRG [Berufung von Professoren], Abs. 2, vor: „Die Professoren werden auf Vorschlag der Hochschule von der nach Landesrecht zuständigen Stelle berufen.“
Hiergegen wäre wenig einzuwenden, wenn nicht die Entscheidung über die Berufung von Professoren auf diesem Wege bei den Kultusministern, also bei Politikern, angesiedelt worden wäre.
Und nach den Länderhochschulgesetzen hatten die Fakultäten der Hochschulen dem jeweiligen Kultusminister einen aus drei Alternativen bestehenden Berufungsvorschlag zu präsentieren, damit ein Lehrstuhl durch einen ordentlichen Professor besetzt wird.
Nach § 44 I 4 b HRG, der vom Lehramtsbewerber den Nachweis „besonderer Leistungen bei der Anwendung oder Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in einer mindestens fünfjährigen beruflichen Praxis“ verlangt, wusste jeder, der an der Gunst seines Kultusministers interessiert war und sein musste, was er zu tun hatte und was er als politisch inopportun und berufungsschädlich zu unterlassen hatte.
Zur politischen Selektion wird ein solches Verfahren in politisch sensiblen Fachbereichen wie dem Arbeitskampfrecht dadurch, dass jeder vorschlagenden Fakultät und jedem vorgeschlagenen Bewerber klar ist, dass kein politischer Leiter einer Kultusbehörde einem Kandidaten den Vorzug geben wird, wenn die Nomination ihn selbst ins politische Aus oder in persönliche Schwierigkeiten manövrieren würde.
Über diesen Wirkungszusammenhang entfaltet die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (o. Fußnote 6) in Verbindung mit dem kultusministeriellen Berufungsvorbehalt des HRG Selektionswirkung: Bis 1955 war die bei den Gerichten herrschende Meinung, dass in der Tarifauseinandersetzung die Kampfbeteiligung des einzelnen Arbeitnehmers Vertragsbruch sei, der den Arbeitgeber zur fristlosen Entlassung der Arbeitnehmer wegen (rechtswidriger, schuldhafter) beharrlicher Arbeitsverweigerung berechtige, für die akademische Karriere unschädlich, weil sie die Standardauffassung war. Da alles, was damals in der Jurisprudenz Rang und Namen hatte, bis 1955 so dachte, fiel kein Bewerber um eine Professur dadurch politisch unangenehm auf, dass er sich die Auffassung sämtlicher Gerichte zueigen machte.
Dies aber änderte sich schlagartig mit der Veröffentlichung der „bearbeiten“ Entscheidung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 28.01.1955 (o. Fußnote 6). Diese Entscheidung (genauer: der dazu verfasste, nicht vom Großen Senat stammende, Leitsatz) bot jedem Befürworter des Gedankens, dass Gewerkschaften als Interessenvertreter der Arbeiter eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen sollten, die Möglichkeit einer moralischen Befreiung von dem Odium des Rechtsbruchs, der die Bewertung der Gewerkschaften nach der bis 1955 herrschen Rechtssprechung aller Gerichte prägte. Und da die Union zu mindestens 70 % und die Sozialdemokraten zu mindestens 95 % die neue Sicht der Dinge als Erleichterung empfanden, bot ein Festhalten an dem bisherigen - auch heute noch richtigen - Rechtsdenken über die Gewerkschaften für jeden Bewerber um eine Professur auf einen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht eine sichere Gewähr, für die Berufung aus dem Dreiervorschlag der Fakultät nicht in Frage zu kommen. Denn jeder Kultusminister, der ab 1955 einem Befürworter des authentischen Rechts gegen einen Befürworter der neuen Rechtsbeugung des Bundesarbeitsgerichts den Vorzug gegeben hätte, hätte sich wegen der Berufung eines Juristen, der im Einklang mit dem Reichsgericht (in Strafsachen) die arbeitskampforientierten Gewerkschaften als kriminelle Vereinigungen bewertet, als SPD-Politiker mit etwa 95 % seiner Parteifreunde überworfen, und als Unionspolitiker mit 70 % überworfen. Für einen Habilitanden gab es nur eine Möglichkeit, seinem Kultusminister dies Problem zu ersparen: Vorbehaltlose öffentliche Anlehnung an die Arbeitskampf-Rechtsbeugung des Bundesarbeitsgerichts. Diese erfolgt durch bewusste Vermeidung der Verbreitung der vom Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 28.01.1955 als „ganz überwiegend“ gekennzeichneten, noch heute richtigen Rechtsauffassung sowie durch Vermeidung des Hinweises auf die Strafbarkeit des Streikens als Erpressung. Zudem war die unkorrekte Behauptung opportun, Streik und Flächentarif seien durch das Grundgesetz garantiert. Dies bedeutete eine Beschränkung des akademischen Nachwuchses auf solche Persönlichkeiten, die bereit waren, sich als Juristen vom geltenden Recht zu distanzieren, um sich aus Gründen der Karriere-Opportunität der politisch favorisierten Rechtsbeugung des Bundesarbeitsgerichts anzuschließen. Die Juristen, denen es wichtig war, weiterhin in jeder Lage das zu sagen, wovon sie überzeugt waren, haben es seit 1955 vermieden, die akademische Laufbahn im Bereich des Staatsrechts und des Bürgerlichen Rechts sowie des Arbeitsrechts anzustreben.
Ein Ergebnis dieser Situation ist, dass sich seit Jahrzehnten kein deutscher Rechtsprofessor mehr finden lässt, der bereit ist, über die höchstrichterliche Strafrechtsprechung zur Erpressung (vgl. oben Fußnote 3) zu berichten, geschweige denn, sie als richtig anzuerkennen. Seriöse Hinweise auf diese Rechtsprechung und ihre sachliche Berechtigung finden sich seit Jahrzehnten nur noch in historischen Schriften und im außerakademischen Bereich.
Der Opportunismus, um der akademischen Karriere willen von seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen in politisch sensiblen Fragen gezielt keinen Gebrauch zu machen, prägt, wie nicht nur an Roman Herzog zu beobachten ist, diese akademischen Opportunisten nicht nur während des Lebensabschnitts von der Promotion bis zur Berufung zum ordentlichen Hochschullehrer, sondern lebenslänglich. Wer sich in jungen Jahren in vielen wissenschaftlichen Publikationen in der wissenschaftlichen Unredlichkeit geübt hat, durch Unterdrücken wichtiger Erkenntnisse bewusst unrichtige Ergebnisse zu produzieren und zu verbreiten, bringt, wenn er mit der Berufung zum Professor die Freiheit erlangt hat, ohne Karrierenachteile die Wahrheit zu sagen, den Mut dazu nicht auf. Dieser Mut setzt eben eine menschliche Stärke voraus, die denjenigen fehlt, die bereit sind, um der akademischen Karriere willen zwei Jahrzehnte hindurch ihre Meinung durch gezielt unrichtige Äußerungen zu kaschieren. Dank des Ansehens, das sie in der Öffentlichkeit genießen, brauchen Professoren kaum zu befürchten, dass die von ihnen in Anbiederung an den politischen Opportunismus geschaffenen Tabus von Politikern oder anderen, im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehenden Meinungsführern gebrochen werden. Und die Gepflogenheit, sich als Hochschullehrer auf Äußerungen im eigenen Fachbereich zu beschränken und Dispute in fremden Fachbereichen zu vermeiden, bewirkt, dass alle Hochschullehrer der Wirtschaftswissenschaften trotz ihres vehementen Interesses an der Beseitigung der ökonomischen Fehlsteuerung, die von der Tarifautonomie ausgeht, es vermeiden, die Hochschullehrer der Rechtswissenschaften mit den Erkenntnissen über die Rechtsbrüche in der Tarifautonomie zu konfrontieren, die dort tabuisiert werden.
Der Missstand der planmäßigen, vom Staat gesteuerten, akademischen Unterdrückung wichtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse aus politischen Gründen lässt sich beseitigen dadurch, dass die verfassungsrechtliche Freiheit der Lehre und Forschung ernst genommen und den Hochschulen die Autonomie eingeräumt wird, ihre Ordinarien selbst und ohne politische Mitsprache zu berufen. Es ist wichtig, statt moralisch schwacher Persönlichkeiten, die bereit sind, um der Karriere willen lebenslang ihre Überzeugung zu unterdrücken, moralisch starke Persönlichkeiten für die Aufgaben der Lehre und Forschung an den Universitäten zu gewinnen, denen es wichtig ist, mutig und notfalls gegen die Mode eines Zeitgeistes für das einzutreten, was sie nach bestem Wissen und Gewissen für richtig halten.
[1] Das Protokoll seiner ungekürzten Rede steht jedem Interessierten unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Red en/DE/Roman-Herzog/Reden/1998/06/19980608_Red e.html - zur Verfügung
[2] Den Begriff „Lohnzurückhaltung“ verwendet Herzog, wenn er Nominallohnsteigerung meint
[3] RGSt 21, 114 - Entscheidung des Reichsgerichts in Strafsachen - hat Streikteilnahme als Erpressung verurteilt.
[4] BVerfGE 84, 212 http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv084212.html# Rn034
[5] BVerfGE 50, 290 http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv050290.html# Rn214
[6] BAGE 1, 291
[7] Heinz Meilicke (1904 - 1997), Prof. Dr., Rechtsanwalt und Steuerberater, hat in zwei Buchauflagen, 1981 und 1985, unter dem Titel „Das Bundesarbeitsgericht - Selbsternannter Sondergesetzgeber zu Lasten der Arbeitgeber - Rechtsfortbildung oder Rechtsbeugung?“
[ISBN 3-9800619-1-4] dem Bundesarbeitsgericht wegen der hier zitierten und 46 anderen Fällen Rechtsbeugung vorgeworfen, ohne dass die von dem Vorwurf Getroffenen, die darüber natürlich empört waren, es gewagt hätten, dem Autor Beleidigung vorzuwerfen; der Schuss wäre nach hinten losgegangen.
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